Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

Art. 2. Grundrechte. Treitschke. 909 
Schranken. Also genau dasselbe, was in den Grundrechten der Herren 
Reicheneperger und Genossen enthalten, ist. Niu einen einzigen positiven Satz haben 
diese Herren hinzugefügt, und diese große, tieffinnige Wahrheit, die man im 
Jahre des Heils 1871 uns als etwao Neues zu bieten wagt, sie lautet, daß 
die Cen sur im deutschen Reiche niemals wieder eingeführt werden solle! Nun, 
meine Herren, mit demselben Rechte und demselben Aufwand von Tiefsinn kennten 
Sie den Satz aufstellen, daß die Folter im deutschen Reiche niemals wieder einge- 
führt werden dürfe. Ich glaube, es lohnt der Mühe nicht, daß man über 
solche Trivialitäten noch Worte verliert. Ich will das für den Politiker be- 
kanntlich nicht zulässige Wort „unmäglich", hier gebrauchen und sage: 
ein Wiedereinführing der Censur in dem deutschen Reiche ist unmöglich! 
Außer diesem Satze haben aber die Herren Reichensperger und Genossen in 
ihren Grundrechten für Presse und Vereine gar nichts gesagt, als eine Auweisung 
auf die Zukunft gegeben, worin erklärt wird, die Reichsgesetzgebung werde 
sich damit befassen. Nach alledem glaube ich den Herren Antragstellern nicht 
Unrecht zu thun, wenn ich meine, daß Presse und Vereine nur ein an- 
genehmes Beiwerk bei ihrem Antrage sind, die eigentliche Absicht aber auf 
die Kirche und deren Selbstständigkeit gerichtet ist. Ich erlaube mir zunächst 
die Frage an die Vertreter der alten Machtstellung der katholischen Kirche 
zu richten, nach welcher Logik man die katholische Kirche unter den einfachen 
Begriff der Vereine in unserm hrutigen Staate bringen kann? Wollten die 
Herren offen und konsequent verfahren, so mußten sie beantragen, man solle 
in dem Artikel 4 der Verfassung noch eine Nr. 17 hinzusetzen, dahin lautend, 
daß auch die Angelegenheiten der Kirche vor das Forum des Reichs unter 
die Kompxetenz seiner gesetzgebenden Gewalt gehören! Die Herren haben 
jedoch vorgezogen diesen so einfachen Weg nicht zu gehen, sie suchen eine 
Kompetenzerweiterung der Reichsgewalt (wofür nach meiner Meimmg die 
Dinge noch nicht reif sind) einzuführen — ich kann nicht anders sagen — 
durch eine Hinterthür. Dies schen, meine Herren, stimmt mich bedenklich; 
und betrachte ich weiter den Inhalt jener kirchlichen Grundrechte, so muß ich 
sagen, wenn jene Grundrechte für die Presse und die Vereine überflüssig und 
unnütz waren, so erscheinen mir die allgemeinen Bestimmungen über die 
Selbstständigkeit der Kirche hoch bedenklich als eine Gefahr für den konfessie- 
nellen Frieden, namentlich in den kleineren deutschen Staaten. (Sehr richtig! 
links.) Ich kann nicht leugnen, meine Herren, ich weiche in dieser Frage 
etwas ab von meinen nächsten politischen Freunden, ich stehe in diesem Punkte 
den Ansichten der Herren vom Centrum näher als Mancher meiner Genossen. 
Ich sehe in dem Maße der Freiheit, welche der katholischen Kirche in Preußen 
thatsächlich zusteht, durchaus keine Gefahr; wohl aber eine Gefahr, und eine 
sehr große, in der Unsicherheit des Staats-Kirchenrechtes in Preußen. Wir 
haben jetzt seit zwanzig Jahren Tag für Tag und Menat für Monat ge- 
sehen, was es heißt, die wichtige Grenzfrage zwischen Staat und Kirche durch 
die unbestimmte Erklärung: die Kirche ordnet ihre Angelegenhriten selbststän- 
dig — schlichten zu wollen. Dies hat dahin geführt, daß es in Preußen zahl-
	        
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