910 lI. Session des deutschen Reichstages. 1871.
lose Koutroversen des Staats-Kirchenrechts gibt, über deren rechtliche Lösung
noch heute die kundigsten Mänuner im Dunkeln tappen. Und meinen Sie
mun, wir sollen diese ganz unklaren Verhältnisse der katholischen Kirche in
Preußen einführen in das übrige Deutschland — sie einführen in einem Augen-
blick, wo durch die katholische Kirche selber eine Bewegung geht, deren letztes
Eude Niemand von uns abzusehen vermag? Ich wenigstens denke zu hoch
von dem Werth und der Bedeutung der römischen Kirche, ich habe einen zu
stolzen Begriff von dem Einfluß, den sie ausübt auf einen großen und guten
Theil unserer Volkes, als daß ich es verantworten möchte, so große und
folgenreiche Dinge hier so nebenbei in einer beiläufigen Berathung eines
Paragraphen von einigen Zeilen abzuthun. Für Preußen, sagen die Herren
ja selbst, soll dadurch Nichts geändert werden, es soll also nur in den kleine-
ren deutschen Staatenseine Aenderung entstehen. Ich frage, welche Aende-
rung? In dem Artikel der Reichsverfassuung steht: den Landesgesetzen gehen
die Reichsgesetze vor. Führen Sie nun die Grundrechke ein, worin kurz und
kahl geschrieben steht: dic katholische Kirche ordnet ihre Angelegenheiten selbst-
ständig — so kann in jedem der kleineren deutschen Staaten mit einem Schein
des Rechtes der Bischof auftreten und behaupten, wenn er das bestehende
Landesgesetz mit Füßen tritt und sich nicht daran bindet, so sei er kraft des
Reichsgesetzes in seinem Rechte. Das ist eine Gefahr, deren Eintreten durch
sehr harte Erfahrungen, namentlich im Großherzogthum Baden, sehr nahe
gelegt ist. Denken Sie daran, meine Herren, daß eine ganze Reihe von
Verfassungen kleinerer deutscher Länder in einem einseitigen protestantischen
Geiste geschricben sind. Es gibt Landesverfassungen, welche die Gründung von
Klöstern und von geistlichen Orden verbicten oder aufs Aeußerste erschweren.
Ich bin ganz der Meinung, daß solche Verfassungsbestimmungen früher oder
sräter bei freien Völkern fallen müssen; ich bin aber nicht der Meinung, daß
nun morgen jeder beliebige Bischof auftreten kann und, gestützt auf diesen
allgemeinen Satz der Reichsverfassung, Klöster bauen kann gegen die Ver-
fassung seines Landes. So ernste und schwierige Fragen sollen geordnet
werden durch eine wohldurchdachte, sorgsam überlegte Gesetzgebung, nicht
durch Schläge gleichsam aus dem Dunkel heraus. Es wird gewiß die Zeit
kommen, wo die Kompetenz des Reiches sich erweitert, und auch die Rirchen-
augelegenheiten unter die Aufsicht des Reiches gestellt werden. Dann aber
werden Kaiser und Reich ruhig und sorgsam zu Rathe gehen und die Er-
fahrungen in Preußen und anderen deutschen Staaten weise benutzen. Sie
wissen, meine Herren, es ist mir immer eine Freude, wenn ich von den Ver-
diensten Preußens sprechen kann; diesmal bin ich aber leider nicht in der
Lage, das Lob, das der Herr Abgeordnete Reichensperger ausgesprochen hat,
nachzusprechen. Ich kann ein welthistorisches Verdienst in der preußischen
Gesetzgebung von 1848 nicht sehen; ich sehe darin — nur ein Zeichen
der damals herschenden dilettantischen politischen Bildung. Ganz ver-
schiedene Elemente wirkten zusammen: auf der einen Seite der Radikalismus