912 I. Session des deutschen Reichstages.
Wähler Ihnen nicht mißtrauen, wenn Sie mit uns zusammenstimmen zu der
zänzlichen Venverfung des Antrages. Nach uieiner Meinung sollten wir
einfach den Antrag ablehnen ohne Motivirung und die Begründung den An-
deren überlassen. Wie aber auch die Motivirungen ausfallen, materiell oder
formell, oder ob wir eine einfache Tagesordnung beschließen, lassen Sie uns
einig sein, lassen Sie uns der Nation zeigen, daß wir nicht nach der Weise
der Herren im Centrum das erste Deutsche Parlament beschäftigen wollen mit
Fragen, die vor 23 Jahren schon abgethan sind, sondern lassen Sie uns an
die ernste Arbeit gehen. Blicken wir nicht in die Vergangenheit sondern in
die Zukunft, auf die Aufgaben positiver Gesetzgebung, welche jetzt mit ihren
trockenen, ernsten Details an uns herantreten und für Deutsche Männer ein
würdigerer Gegenstand der Arbeit sein werden, als die im Allgemeinen nie-
mals lösbaren Streitfragen über die Grenzen von Staat und Kirche. (Leb-
haftes Bravo von allen Seiten.)
Freiherr v. Ketteler aus Mainz (Buchen-Walldürn rc. (Baden)’): Ich
werde nicht auf den Ton eingehen, meine Herren, und in denselben ein-
stimmen, den der Herr Abgeordnete Treitschke bei Beginn dieser Debaue
angestimmt hat. Er hat Sie gebeten, keinen Gesetzen Ihre Zustimmung zu
geben, die den Bischofen Veranlassung sein könnten Rebellen an den Landes-
gesetzen zu werden. Ich will Ihnen, meine Herren, ein Mittel angeben,
wodurxsh Sie diese Gefahr ein für alle Mal vermeiden werden — obwohl dies
bei Ihrem Billigkeitsgefühl überhaupt nicht zu befürchten ist —: Geben
Sie niemals Zustimmung zu Gesetzen, welche Rebellen gegen Gottes Gesetz
sind, — dann werden auch wir gewiß niemals Rebellen gegen Landesgesetze
sein, (Nuf: Sie wollen es also doch!) sondern uns bemühen, mit allen
treuen Söhnen des Vaterlandes zu wetteifern in treuer Erfüllung der Landes-
gesetze. Er hat Sie ferner gebeten, der Selbstständigkeit und Selbstver-
waltung der christlichen Konfessionen deshalb Ihre Beistimmung nicht zu
geben, damit nicht etwa die Selbstständigkeit von den Bischöfen als Vorwand
benutzt werden könnte sich über Landesgesetze hinauszusetzen. Aber, meine
Herren, dieser Vorwand, der trifft ja eigentlich alle Gesetze, welche die Frei-
heit garantiren. Möglich ist überall der Mißbrauch der Freiheit, Sie müßten
denn ron dem Gedanken ausgehen, der Ihnen gewiß fern liegt, daß die
Bischöfe allein in der Gefahr oder in der Möglichkeit sich befinden Frei-
heiten zu mißbrauchen. Derselbe Grund läßt sich ja gegen alle anderen
Freiheiten anwenden: die Preßfreiheit, die Vereinsfreiheit, — alle Freiheiten
lassen sich mißbrauchen. Deshalb halte ich auch diesen Einwand für gänzlich
unbegründet. Ich nehme bei dieser Debatte vielmehr einen höheren Stand-
punkt ein, einen Standpunkt, von dem ich glaube, daß Alle ihm zustimmen
!) Sl. B. S. 111 . g. u. Mit dieser Rede begann die 10. Sitzung vom 3. Axril
1971.