Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

914 I. Sesflon des dentschen Reichstaget. 
charta des Religionsfriedens in Deutschland, soweit er in unseren Händen 
liegt. Damit sind die Gegensätze nicht verwischt auf dogmatischem Gebiete, 
aber damit sind diese Gegensätze ausgewiesen aus den politischen Versamm- 
lungen. Dieser Religionsfriede ist nicht dadurch zu erzielen, wie manche 
glauben, daß wir die bürgerliche Gesellschaft ron der Religion trennen, auch 
nicht dadurch, wie es Andere glauben, daß man Die bekämpft, welche au 
einem christlichen Bekenntniß treu festhalten. Dieser wahre, festbegründete 
Religionsfrieden ist vielmehr nur dadurch zu erlangen, daß wir den ver- 
schiedenen religissen Ansichten und den berechtigten Bekeuntnissen volle Parität 
gewähren — dem einen Bekenntniß wie dem anderen. (Hört! hört! links.) 
Dieser Parität aber giebt unser Autrag den rechten Ausdruck. Dieser Stand- 
punkt, den ich eben entwickelt habe, meine Herren, ist allein der Standpunkt 
der vollen Gerechtigkeit. Zur Gerechtigkeit gehört, daß wir Jedem sein Recht 
geben — das thut unser Antrag. Er ist gerecht Denen, die das Christenthum 
in den alten Bekenntnissen bekennen; er gewährt Toleranz Denen, die glauben 
— was ich freilich für unmöglich halte — einem Christenthum ohne alles 
Bekenntuiß anhängen zu können; er ist gerecht auch den nichtchristlichen 
Konfessionen. Unsere Forderung ist die Forderung der Gerechtigkeit gegen 
Alle, ohne Nebengedanken und ohne Hintergedanken. Unser Standpunkt ist 
ferner wie ich glaube auch zugleich allein der Standpunkt der wahren 
Religionsfreiheit vor den bürgerlichen Gesetzen, wie sie uns durch dieselben 
gewährt ist. Es ist eine gar große Täuschung, auf der einen Seite von 
Religionsfreiheit zu reden, wie uns die Verfassungen sie gewähren, und auf 
der andern Seite sie lediglich auf die Gesinnung des Indiriduums beschränken 
zu wollen. Das ist mehr Gedankenfreiheit als Religionsfreiheit. (Sehr 
wahr! im Centrum.) Zur Religion gehört nothwendig eine Genossenschaft; 
wir nennen sie Kirche; aber das Wesen der Kirche ist ja wieder das Genossen- 
schaftliche. Zur Religionsfreiheit gehört das Recht und die Freiheit mit den 
Gesinnungs= und Glaubensgenossen in einem Bekenntniß zusammen zu sein, 
sich nach demselben frei zu bewegen und die eigenen Angelegenheiten selbst 
zu verwalten. Diese wahre Gewissensfreiheit fordern wir auch für die christ- 
lichen Bekenntnisse, die gewiß die allerberechtigtsten dazu sind. Darum for- 
dern wir für sie das Recht der Selbstbewegung, der Selbstbestimmung, der 
Selbstverwaltung — immer selbstrerständlich in dem Rahmen der allgemeinen 
Gesetze, nicht außer diesem Rahmen der allgemeinen Gesetze. Wir behaupten 
mit dieser Selbstständigkeit in keiner Weise, daß wir uns über die Gesetze 
hinaussetzen dürften, wir bestreiten nicht, daß wir ihnen Gehorsam schuldig 
sind; wir maßen uns nicht das Recht an, nun alles uns Beliebige willkürlich 
in den Kreis der Selbstrerwaltung und Selbstständigkeit hineinziehen zu 
dürfen. Es kommt eben für eine besonnene und kluge Gesetzgebung darauf 
an, hier an der Hand der realen Verhältnisse die rechten Grenzen zu finden. 
Es ist aber, um unseren Antrag richtig aufzufassen, vor allem nothwendig 
dies im Auge zu behalten, daß wir nämlich die Selbstständigkeit nur fordern
	        
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