Art. 2. Grundrechte. Windthorst. 935
Meinungen öffentlich auszusprechen — daß es in verschiedenen deutschen
Gesetzgebungen Bestimmungen gebe, die nicht mit der Freiheit, die man der
Kirche gewähren müsse, übereinstimmen. Er hat aber leider ebenso deutlich
den Kardinalpunkt angegeben, auf den es bei Lösung der vorliegenden
Fragen ankommt; er hat gesagt — und darin ist eben der diametrale Ge-
gensatz zwischen ihm und mir belegen —: „der Staat soll die einschlagen-
den Verhältnisse ordnen, der soll es auch in größerer Billigkeit ordnen, als
es jetzt geordnct ist, und als meine politischen Freunde ihrer Mehrzahl nach
es ordnen wollen; aber der Staat allein soll es ordnen, der Staat ist die
alleinige Quelle alles Rechts, ohne die Emanation des Staats giebt es kein
Recht.“ Das, meine Herren, ist eine Staatsrechtslehre, die ich ganz ent-
schieden zurückweise. Der Staat ist der Schutz des bestehenden Rechts, er
ist nicht der alleinige Schöpfer des Rechts. Diesen Satz müssen wir durch-
aus festhalten, wenn wir nicht in die unglücklichste Lage kommen wollen,
wenn wir nicht dahin kommen wollen, daß der Staat Alles absorbirt, das
Individuum, alle Bedingungen individueller Bewegung und individueller Frei-
heit, ja auch das Eigenthum; denn im schließlichen Resultate wurzelt die
Lehre des Sozialismus und Kommunismus in dieser behaupteten Omnipotenz
des Staates. Ich werde nun und nimmer diesem Satz beistimmen, am
wenigsten auf kirchlichem Gebiet, selbst wenn er geübt werden sollte in der
freundlichen Weise, in der der Herr Abgeordnete von Treitschke ihn in Be-
ziehung auf die katholische Kirche üben zu wollen erklärt hat. Meine
Herren, es ist das, was wir beantragen, nicht neu. Es ist bereits in der
preußischen Verfassung gelegen. Der Herr Abgeordnete von Treitschke hat
freilich gemeint, man könne diese Frage in vier Zeilen nicht lösen. Ich
werde meinestheils gar nichts dagegen haben, wenn der Herr Abgeordnete
von Treitschke es versucht, sie in acht oder mehr Zeilen zu lösen. Das aber
muß ich doch bemerklich machen, daß wenn es auch nicht die Absicht sein
kann, in einem gewissen Augenblicke die ganze Arbeit von Jahrhunderten
durch vier Zeilen zu vollenden, es doch möglich und zutreffend sein kann, nach
der Arbeit von Jahrhunderten endlich dahin zu kommen, den richtigen Satz
und die richtige Formel für die Resultate der Arbeit von Jahrhunderten zu
finden, und dies ist eben in dem § 15 der preußischen Verfassung in
Beziehung auf das Verhältuiß der Kirche zum Staate geschehen, und darum
wollen wir denselben auch in die Reichsverfassung übertragen. Meine
Herren, es ist auch nicht neu, daß diese Fragen im Reichstage vorkommen.
Im konstituirenden Reichstage wurde dieser selbe Antrag gemacht, damals
von einem lutherischen Pfarrer, dem Pastor Schrader aus Holstein. Heute
bringen wir ihn. Damals wurde er als inopportun zurückgewiesen. Eini-
gen Schein für die Zurückweisung konnte man haben, indem man
nicht das hatte, was wir heute leider haben, nämlich den Art. 4
Nr. 16. Verkehrt aber war die Zurückweisung dennoch. Wir können uns
der Thatsache nicht verschließen, daß es in Deutschland sich um zwei große
kirchliche Gemeinschaften handelt, um die protestantische und um die katho-