936 I. Session des deutschen Reichstages.
lische Gemeinschaft. Diese Thatsache kann man beklagen oder nicht be-
klagen, — sie ist eben vorhanden und politische Männer müssen mit dieser
Thatsache rechnen. Daß man darüber schweigt, daß man wie die geehrten
Abgeordneten Graf Renard und Genossen in Uebereinstimmung mit dem
Fortschritt die dadurch gegebenen Fragen hinauszuschieben sucht, das lost
die Frage nicht und bessert die Lage nicht. Das Deutsche Reich ist un-
zweifelhaft äußerlich wohl begründet. Diese äußerliche Begründung
genügt aber nicht, es ist auch eine innere Begründung nöthig, und diese
innere Begründung wird nicht eher da sein, als bis man das erreicht hat,
daß alle Konfessionen und insbesondere auch die katholische Kirche ihre be-
friedigende Situation in diesem Reiche gefunden hat. Wenn sie das nicht
haben, so ist innerlich das Deutsche Reich nicht von der Kraft, die man
für dessen Bestand nothwendig wünschen muß. Mit Ueberkleisterung kann
man die bestehenden Gegensätze nicht kuriren. Was war deshalb natür-
licher, als daß wir Ihnen vorschlugen, ganz auf dieselbe Weise, wie es im
größten Deutschen Staat mit Erfolg versucht ist, im Deutschen Reiche all-
gemein die Sache zu ordnen! Der Herr Abgeordnete von Treitschke hat ge-
meint, damit würde man die Bischöfe in die Lage bringen können, Rebellen
gegen die Gesetze ihres Landes zu werden. Damit hat er zunächst konstatirt,
daß es in Deutschland solche Gesetze giebt, welche den von uns proponirten
Grundsätzen kirchlicher Freiheit zuwider sind. Wenn es wirklich wahr ist,
daß es in Deutschland solche Gesetze giebt — und auch ich glaube das —,
dann ist es hohe Zeit, daß sie beseitigt werden. Wenn es wahr ist, — und
ich behaupte das — daß in vielen Deutschen Staaten noch heute nicht das
Recht freier Neligionsübung existirt, so ist es hohe Zeit, daß einem solchen
unerträglichen Zustande endlich ein Ziel gesetzt werde, und zwar durch eine
Bestimmung ein Ziel gestellt werde, die aktuell und unmittelbar zur An-
wendung gelangt. Wenn Sie den Grundsatz aussprechen, so müssen und
werden die Dinge in den Staaten, wo derartiges erxistirt, von selbst ge-
ordnet werden dem ausgesprochenen Grundsatze entsprechend. Das wird
ohne Zweifel auch geschehen, soweit selbst der Gumdsatz ohne weitere Auf-
führung nicht zur Geltung kommen konnte. Daß der Grundsatz aber in
vielen, in den meisten und wichtigsten Punkten ohne Weiteres zur Aus-
führung kommen kann, das hat Preußen uns gezeigt; denn innerhalb des
preußischen Staates waren zur Zeit der Erlassung dieses Paragraphen eben
so viele verschiedenartig gestaltete kirchenrechtliche Verhältnisse, wie sie in
dem gesammten Deutschland sich finden, und doch ist cs der preußischen Re-
gierung gelungen, ohne große Schwierigkeiten die Sache durchzuführen und
— bis zu der neuerlich eingetretenen Reaktion — zur Zufriedenheit durch-
zuführen. Das sind im Wesentlichen diejenigen Gesichtspunkte, auf die es,
nach meiner Ansicht, hier ankommt; die Einwendungen, die erhoben sind,
scheinen mir darnach sämmtlich hinfällig. Es ist nicht gut, mit der Frage
sich zu erhitzen, aber es ist nothwendig, sie bald zu erledigen, es ist das