Art. 2. Grundrechte. Kiefer. 947
Kiesr aus Mannheim (Keuzingen-Ettenheim):') Meine Herren, der
Herr Abgcordnete für Tauberbischofsheim hat uns zu Beginn seines Vor-
trages aufgefordert, von einem hohen Standxunkte diese Dinge zu betrachten.
Ich stimme darin vollständig mit ihm überein, daß es unserer unwürdig
wäre, nach den großen Ereignissen, welche dieses Reich neu geschaffen haben
und welche uns die Aussicht auf eine große Zukunft eröffneten, in eine klein-
liche, ängstliche oder furchtsame und schene innere Politik zu verfallen. Meine
Herren, ich gehöre auch nicht zu Denen, welche glauben, daß es an sich ein
Bedürfniß der deutschen Staaten sei, die Beziehungen des Staates zur
Kirche forthin oder auch nur auf längere Zeit ausschließlich als einen Vor-
behalt der Partikular-Gesetzgebung zu behandeln. Ich bin vielmehr
der Ueberzeugung, daß der Tag kommen wird, — und ich wünsche
daß er bald komme — an dem die Deutsche Reichsgewalt der Nation
eine fundamentale Gesetzgebung über diese Dinge und diese Verhält--
nisse verleihen wird. Die Deutsche Reichsgewalt allein wird die Macht be-
sitzen, nach allen Richtungen hin das Gefühl der Rechtssicherheit zu verleihen
und jenen starken Willen zur Geltung zu, bringen, der gegenüber den Er-
innerungen an die Kämpfe früherer Jahrhunderte, , welche ihre Wirkungen
noch bis in unsere Zeit hinein erstrecken, nothwendig ist. Allein, meine
Herren, wenn wir mit einem vollen Herzen und von einem hohen Stand-
punkte diese Dinge betrachten, dann dürfen wir uns hier in keiner Weise
entgehen lassen jenen nüchternen Sinn der Thatkraft und des politischen
Verstandes, welcher allein Deutschland wieder geschaffen hat in dieser Zeit.
Meine Herren, ich bin auch darin vollständig mit dem Herrn Abgeordneten
für Tauberbischofsheim der Ansicht, daß das tiefe Gefühl der Achtung vor
der Religion, jene Herzenswärme und Ehrfurcht vor dei Hohen und Heiligen,
welche unserer Nation in ihrem innersten Wesen eigen ist, daß das ein
wichtiges und tief bedeutsames Unterpfand sei für unsere politische Zukunft.
Allein, meine Herren, das kann uns nicht dazu veranlassen, daß wir die
neue deutsche Reichsgewalt damit inanguriren, eine Gesetzgebung zu schaffen,
welche gefährlicher wäre als alle Konkordate, welche die römische Kirche in
den letzten Decennien irgend einer europäischen Regierung angeboten hat.
Mau hat uns hier gesagt, die Kirche sei nur eine bürgerliche Gesellschaft,
sie trete hier in dieser einfachen Vereinsgestalt vor den Staat und seine
Rechtsordnung. Es hat zwar der Abgeordnete Dr. Windthorst vorsichtig
hiezu bemerkt, so ganz wahr und richtig sei das eigentlich nicht; das Funda-
ment dieser Begründung ist aber doch auch unangefochten geblieben, wie es
uns von den Vertretern des Reichenspergerschen Antrages hier vorgetragen
wurde. Nun, meine Herren, die Kirche ist kein Verein, sie ist eine mächtige
Corporation, eine Großmacht, welche dem Staate in seinem wichtigsten und
tiefsten Lebensgebiete auch heute noch Konkurrenz machen will. Wir dürfen
*) St. B. S. 124 r. u.
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