974 I. Session des deutschen Reichstages.
Blanckenburz hat uns gesagt, wir suchen die alten kirchlichen und religiösen
Kämpfe wieder hervor. Ich werde dagegen nur das sagen: wenn man etwas
aus der Welt schaffen will, so muß man es in die Hand nebmen, und ich
glaube, die religiösen Kämpfe, die wollen wir aus der Welt schaffen, und
darum muß man auch in diesem Augenblick die religiösen Fragen in die
Hand nehmen. Das ist überhaupt die Grundlage, auf der wir uns in dieser
Sache bewegen. Meine Herren, es geht ein tiefer Zwiespalt durch die Welt,
insbesondere aber durch unsere Nation. Es ist der Zwiespalt des Glaubens
und des Widerspruchs gegen den Glauben. Unter den Gebildeten, meine
Herren, ist die Erfabrung nur gar zu oft zu machen, ja beinahe an der
Mehrheit zu machen, daß nachdem man zu den Unterscheidungsjahren ge-
kommen ist, man das, was von Religion aus der Jugendzeit hängen geblieben
war, von sich wirft und sich auf den Standpunkt stellt, wonach Glauben
und Rirche ein überwundener Standpunkt sind. Meine Herren, diese Erfab-
rung mache ich an meinen eigenen Freunden, die ich im Uebrigen achte und
liebe wie mich selbst, aber ich mache die Erfahrung, daß seltsamerweise man
wohl den Kindern sagt, daß sie der Religion bedürfen, daß man ihnen ge-
stattet, sich bis zur Koufirmation als Christen zu betrachten und zu bewegen,
dann aber, nachdem dieser Zeitpunkt herangekommen ist, Religion und Kon-
fession aus ihrer Gesinnung zu tilgen und ihnen das Bewußtsein beizubringen
sucht, die Konfession sei ein überwundener Standpunkt. Was folgt daraus,
meine Herren? Glauben Sie nicht, daß ich von irgend Jemand verlange,
er solle zum Glauben zurückkehren. Das kommt mir nicht in den Sinn.
Ich erkenne an, daß auch der Charakter ganz gut bestehen kann, ohne von
einer bestimmten Glaubensrichtung abzuhängen. Aber Eines folgt daraus,
meine Herren, und das ist es eben, was wir niemals geung beherzigen kön-
nen, daß man nämlich den Glauben Anderer zu achten hat, daß auch der
Konfessionslose es achten muß, wenn ein Anderer sich zu einem bestimmten
Glauben, zu einer bestimmten Konfession belennt. Das sind wir nicht blos
uns, das sind wir vor Allem unserem Volke schuldig. Unser Volk, meine
Herren, — das ist schon oft gesagt worden — ist ein gläubiges, ist ein
gottesfürchtiges Volk. Ich habe die Sache immer so aufgefaßt, daß ein Ver-
weter des Volkes, ein Volkemann im eigentlichen Sinne, seinem Volke auch
in seiner Religion nahe stehen und es in seinen religiösen Bedürfnissen ver-
theidigen müsse, daß aber jeder Andere, der im Gegensatz zu seinem eigenen
Volke steht, sich doppelt in Acht nehmen müsse, den Glaubenebedürfnissen
des Volkes entgegenzutreten. Aber, meine Herren, es ist ungeheuer schwer,
auf dem Standpunkte der Glaubenslosigkeit den Gläubigen gerecht zu werden!
Schon das Glauben daran, daß ein Anderer mit voller Ueberzeugung einer
Konfession anbänge, wird ungemein schwer. Dieser Gegensatz geht durch
unser Volk, und diesen Gegeusatz dürfen wir nicht hegen und pflegen, son-
dern dieser Gegensatz muß aus der Welt geschafft werden durch die Gleich-
berechtigung jedes Glaubens. Ein zweiter Gegensatz, meine Herren, liegt bei