Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

96 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
Verwaltungswege beschränkt wurde. Ferner darin, daß der Richter bei handhafter Tat von 
Amts wegen einschritt und die Vollstreckung der Acht der öffentlichen Gewalt vorbehalten wurde. 
Beschränkt wurden die Taidigungen oder Richtungen, d. h. die außergerichtliche Abfindung 
des Verletzten mit dem Missetäter, zum Teil schon darum, damit dem Fiskus der Anspruch auf 
das Friedensgeld nicht entgehe. Endlich ermöglichte die Einführung des Rügeverfahrens die 
Verfolgung von Verbrechen auch dann, wenn der Verletzte seinen Schaden verschwieg. 
Das Willensmoment gelangte bei der Behandlung der Missetaten allmählich mehr zur 
Geltung. Der Begriff der Ungefährwerke wurde ausgedehnt und deren Ahndung gemildert. 
Der Kreis der Versuchsdelikte und jener Missetaten, die den Vorsatz als begriffliches Merkmal 
voraussetzten, erfuhr eine Erweiterung. Anstiftung und Beihilfe wurden bei bestimmten Ver- 
brechen unter Strafe gestellt. Auch die Unterscheidung der Missetaten hat sich etwas verinner- 
licht. Den Mord kennzeichnete nicht mehr das Benehmen des Täters nach der Tat, sondern 
die meuchlings verübte, die heimliche Tötung. Vermessentlicher Totschlag wurde schärfer be- 
straft als die Tötung, die aus Anlaß eines Streites im Affekt erfolgte. 
IV. Der Rechtsgang. 
§ 22. Im Rechtsgang macht sich die Erstarkung der Staatsgewalt durch die Beschränkung 
der Selbsthilfe und durch eine Umgestaltung des Gerichtsverfahrens geltend. Jene äußert sich 
in der Einengung des Fehderechtes und in der Beschränkung der außergerichtlichen Pfändung 
um Schulden. Die Reformen im Gerichtsverfahren führen eine Milderung des strengen Rechtes 
herbei und haben im allgemeinen ihren Ausgangspunkt im Verfahren des Königsgerichtes. 
Von hier aus werden sie zum Teil auf das volksgerichtliche Verfahren ausgedehnt, zum Teil 
aber bleiben sie auf das Königsgericht beschränkt. Die Anderungen, die das Verfahren der 
Volksgerichte erfuhr, betreffen: 
1. die Christianisierung der Prozeßformalitäten. Die altheidnischen Formen werden 
ausgemerzt und durch christliche ersetzt. Während der Kläger früher die Klage mit Anrufung 
der heidnischen Götter erhob, hat er jetzt bei den Franken einen Voreid anzubieten und zu schwören, 
sofern nicht Beweiszeichen des Tatbestandes oder gewisse Verdachtsgründe vorliegen, während 
nach anderen Stammesrechten die Klage bei Gott und den Heiligen erhoben wird. Die regel- 
mäßige Eidesform wurde der Eid auf die Reliquien oder auf die Evangelien. Der Ordalien 
nahn sich die Kirche an und stattete sie mit kirchlichem Zeremoniell aus. Vorübergehend wurde 
ein spezifisch christliches Ordal, die Kreuzprobe, eingeführt, aber 818/9 wieder verboten; 
2. die Steigerung der richterlichen Autorität. Sie hat eine Beschränkung des Ver- 
handlungsprinzips, eine Abschwächung des Formalismus und somit eine Umwandlung der 
ganzen Struktur des Verfahrens im Gefolge. An die Seite der alten volksrechtlichen Ein- 
richtungen des Rechtsganges tritt eine Anzahl amtsrechtlicher Neuerungen, die den unmittel- 
baren Verkehr der Parteien und die hierzu notwendigen Formalakte durch richterliche Befehle 
ersetzen. Vorerst stehen die neuen Institutionen in konkurrierendem Verhältnis zu den Formen 
des Volksrechts, schließlich haben sie diese vollständig verdrängt. So verschwindet die rechts- 
förmliche Vorladung von seiten der Partei, die mannitio, allmählich neben einer neuen Art 
der Vorladung durch richterlichen Befehl (bannitio). Während sonst die Partei selbst durch 
formellen Akt den Gegner zur Antwort, zum Eide, die Urteilfinder zur Urteilfindung auffordern 
mußte, erzielt nunmehr der richterliche Antwort- und Eidesbefehl, die richterliche Urteilsfrage 
gleiche rechtliche Wirkung. Mit Hilfe der richterlichen Urteilsfrage kann die Partei, die im Beweis- 
verfahren obsiegte, den Ausgang des Rechtsstreites durch ein deklaratorisches Urteil gerichtlich 
feststellen lassen. Neben die Entscheidung über die Urteilsschelte durch gerichtlichen Zweikampf 
tritt eine freie Untersuchung der Voraussetzungen des gescholtenen und an das Königsgericht 
gezogenen Urteils, welche nicht an die volksrechtlichen Beweisregeln gebunden ist. In direktem 
Gegensatz zum Verhandlungsprinzip des Rechtsganges wurde in karolingischer Zeit das Frage- 
verfahren, inquisitio, eingeführt. Der königliche Beamte wählte eine Anzahl glaubwürdiger 
Gemeindegenossen aus, die auf ein eidliches Wahrheitsversprechen hin inquiriert wurden. Diese 
inquisitio benutzte man in Verwaltungsangelegenheiten und im Prozesse. Sie wurde u. a. 
als Rügeverfahren angewendet, um Verbrechen auf die Spur zu kommen, hinsichtlich deren
	        
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