Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

104 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
und der Hundertschaft gehandhabt wurde. Gewisse Streitigkeiten der Grundholden wurden 
im Hofgerichte des Grundherrn entschieden. Der grundherrliche Beamte, der Vogt, Schulze 
oder Meier, war Richter, die Hofgenossen fanden das Urteil nach Hofrecht, das sich an den Höfen 
der verschiedenen Grundherren in sehr mannigfaltiger Weise gestaltete. Die Dienstmannen 
standen zu Recht vor dem Gerichte ihres Dienstherrn, das gleichfalls Hofgericht hieß. Mit der 
steigenden Bedeutung der Ministerialität streiften sie die Schranke des Dienstrechtes ab und 
wurden bezüglich ihrer Lehen des gemeinen Lehnrechts, im übrigen des Landrechts teilhaftig. 
Die Stadt war ursprünglich kein besonderer Gerichts= und Rechtsbezirk; den verschiedenen 
Klassen der städtischen Bevölkerung fehlte ein gemeinsames Gericht und ein gemeinsames Recht. 
Die Freien lebten nach Landrecht, die Ministerialen nach Dienstrecht, die Hörigen nach Hof- 
recht. Aber mit der Entwicklung des Städtewesens bildete sich auf Grundlage der dem Stadt- 
herrn zustehenden oder verliehenen Immunität und in Marktsachen für die Bürger der Stadt 
ein besonderes Stadtgericht aus, mit welchem der Ausgangspunkt eines den Städten eigentüm- 
lichen Stadtrechts gegeben war. In Nord- und Mitteldeutschland wird das Stadtrecht seit 
der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts als Weichbild bezeichnet. Nur in einzelnen Städten 
hat sich das Stadtrecht selbständig entwickelt (Urrechte). Viele Städte dagegen empfingen ihr 
Recht durch Bewidmung, d. h. indem sie sich das in einer anderen Stadt ausgebildete Stadt- 
recht übertragen ließen. Mittels der Bewidmung entstanden ausgedehnte Stadtrechtsfamilien, 
unter denen die des magdeburgischen und des lübischen Rechtes die ansehnlichsten waren. Die 
Stadt des Mutterrechtes blieb gewöhnlich als Oberhof in dauernder Verbindung mit der Stadt 
des Tochterrechtes. Wenn nämlich die Schöffen dieser des Rechtes nicht weise waren, fragten 
sie um Rechtsbelehrung bei den Schöffen des Oberhofs an oder legten ihnen geradezu den Rechts- 
fall zur Entscheidung vor. Lübeck, Magdeburg, Eisenach und Frankfurt a. M. waren die be- 
rühmtesten Oberhöfe. Deutsches Stadtrecht drang auch über die Grenzen des Reiches in die 
benachbarten slawischen und ungarischen Lande ein. Die zahlreichen Kolonien, welche die 
Deutschen hier gründeten, wahrten sich das deutsche Stadtrecht. In Polen wurde magdeburgi- 
sches Recht wesentliches Merkmal des Stadtbegriffes und verpflanzte sich als allgemeines Stadt- 
recht selbst in Orte mit vollständig undeutscher Bevölkerung. 
Als mit dem Emporkommen der Landesherrlichkeit sich innerhalb der Stammesgebiete 
selbständige Territorien ausgeschieden hatten, bildete sich in einigen davon ein vom allgemeinen 
Stammesrechte verschiedenes Territorialrecht, für welches das landesherrliche Gericht den 
Kristallisationspunkt abgab. So haben sich z. B. in Bayern, wo die Zersetzung des Stammes- 
rechtes am meisten wirkte, für Osterreich, Salzburg, Oberbayern und Steiermark besondere 
Territorialrechte entwickelt. Abgesehen hiervon hat manche kleinere Landschaft, mancher Gau 
sein Sonderrecht hervorgebracht. 
Den einzelnen Faktoren der Besonderung des Rechtes vermag das einzige Organ zentraler 
Rechtsbildung, das deutsche Königsgericht, nur in sehr unvollkommener Weise entgegenzuwirken. 
Es besitzt nicht die dominierende Stellung, wie sie das fränkische Königsrecht besessen hatte. 
Während in den Untergerichten die Rechtsprechung an den herkömmlichen Dingstätten meist 
von ständigen Schöffen besorgt wurde und den Gegenstand eines lebenslänglichen, häufig erb- 
lichen Amtes abgab, wurden am jeweiligen königlichen Hoflager die Urteile nicht von ständigen 
Urteilfindern, sondern von den zufällig anwesenden Großen und Reichsministerialen gefunden. 
In dem Kampfe zwischen Rechtseinheit und Rechtsverschiedenheit hatten sonach die Organe 
örtlicher Rechtsbildung von vornherein den Vorzug festerer Ausgestaltung für sich. 
Unter den Stammesrechten gewinnt auf Grundlage der ihm gewidmeten juristischen 
Literatur das sächsische die stärkste Konsistenz und die einheitlichste Ausbildung. Die Rechte 
der Schwaben, Bayern und Thüringer stehen unter dem beherrschenden Einflusse des fränki- 
schen Rechtes, dessen Institutionen, infolge der starken fränkischen Kolonisation, zum Teil auch 
im Herrschaftsgebiete des sächsischen Rechtes Wurzel fassen. Das Recht der Bayern fällt in 
eine Anzahl selbständiger Territorialrechte auseinander; niemals ist hier der Versuch einer einheit- 
lichen Darstellung des Rechtes gemacht worden, wie dies auf sächsischer, schwäbischer und fränki- 
scher Erde geschah. In einer gewissen Abgeschlossenheit vollzieht sich auf beschränktem Geltungs- 
gebiete die Fortbildung des friesischen Rechtes, dessen Rechtsquellen sich vor allen anderen durch 
die hohe Altertümlichkeit ihrer Bestimmungen auszeichnen.
	        
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