130 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
14. Jahrhunderts die Unwissenden nicht mehr zur Teilnahme an den Femdingen zu berufen
pflegte, wurden die Stillgerichte allgemein. Die Feme befaßte sich hauptsächlich mit Straf-
gerichtsbarkeit. Wer von mindestens drei Freischöffen auf handhafter Tat ergriffen wurde,
konnte von ihnen sofort aufgehängt werden. Das Verfahren bei nicht handhaften Strafsachen
ist aus dem karolingischen Rügeverfahren hervorgegangen. Das Femding erscheint außer-
halb Westfalens, so z. B. in Braunschweig (Rechtsaufzeichnung von ca. 1312), als ein Rüge-
gericht mit deutlichen Anklängen an die aus derselben Wurzel hervorgegangene anglonormannische
Rügejury. In Westfalen hat die Einrichtung ausgedehntere Anwendung gefunden, festere
und mehr amtliche Formen erhalten und Momente des Anklageverfahrens in sich ausgenommen.
Die Freischöffen haben hier die Stellung von ständigen und amtlichen Rügegeschworenen, welche
von dritten Personen Anzeigen entgegennahmen. Sie sind bei ihrem Eide verpflichtet, als
Ankläger aufzutreten, d. h. die Rüge zu erheben, und ausschließlich hierzu berechtigt. War die
Tat eine Femrüge (wroge), so erfolgte die Vorladung vor das offene bzw. heimliche Ding. Den
Ungehorsamen traf, wenn der Kläger seine Schuld selbsiebent beschwor (Iihn übersiebnete), die
Verfemung, die für die Person des Verfemten die Wirkung der Oberacht hatte. Zur Voll-
streckung wurde ein Schöffe bestellt, dem sämtliche Wissende beizustehen verpflichtet waren.
Sie erfolgte durch Aufknüpfen des Verurteilten. Im Beweisverfahren war (wie schon bei
dem fränkischen Rügeverfahren) der Zweikampf ausgeschlossen. Der Ausschluß der Ordalien
war selbstverständliche Folge des kirchlichen Verbotes. Als Reinigungsmittel diente der Eid
mit Helfern (als welche nur Schöffen dienen konnten); doch fand zwischen dem Ankläger und
Beklagten ein Uberbieten mit Eidhelfern statt, wodurch es bis zu einem Eide mit 20 Eidhelferm
kommen konnte.
Zweiter Abschnitt.
Geschichte des Privatrechts bis zur Aufnahme der
fremden Rechte.
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*# 44. Allgemeine Bemerkungen. Zu einer vollständigen Differenzierung des öffent-
lichen und des Privatrechtes ist die deutsche Rechtsentwicklung in der Zeit ihrer Selbständigkeit
nicht durchgedrungen. Verschiedene Rechtsinstitute tragen durch ihre Zugehörigkeit zu beiden
Rechtsgebieten ein gemischtes Gepräge an sich. Doch ist die Scheidung der Sache nach weit
mehr vorhanden, als sie in der Uberlieferung zum theoretischen Ausdruck gelangt. Erst gegen
Ende dieser Periode hat in den Rechtsquellen, zumal in den städtischen, der Prozeß der begriff-
lichen Auseinandersetzung begonnen. Soweit übrigens diese den Versuch einer systematischen
Darstellung des Rechtes machen, findet man nicht sowohl ein System der Rechtsverhältnisse
als vielmehr der Lebensverhältnisse, nicht sowohl ein juristisches als ein wirtschaftliches System,
das die im Leben nebeneinander liegenden Erscheinungen im Zusammenhang ihrer natürlichen
Verwandtschaft behandelt.
Gleich dem römischen hat sich auch das deutsche Privatrecht im engsten Anschluß an das
Prozeßrecht entwickelt. So bildete z. B. die grundsätzliche Unzulässigkeit der gerichtlichen Stell-
vertretung den Ausgangspunkt für eine Reihe bedeutsamer Institutionen des Vertragsrechtes.
Die jüngere Form des Pfandrechtes an Immobilien hat sich anknüpfend an das Vollstreckungs-
verfahren in Liegenschaften ausgestaltet. Die Rechtssätze über den Schutz des Eigentums an
der Fahrhabe stehen in Zusammenhang mit der Form der Eigentumsklage. Auf die schrift-
liche Fixierung des Gerichtszeugnisses geht die Eintragung der Immobiliargeschäfte in öffent-
liche Bücher und damit das moderne Grundbuchwesen zurück. Wie das Gerichtsverfahren und
das Strafrecht, hat auch das Privatrecht einen typischen und daher formalistischen Zuschnitt,
indem die äußerlich erkennbare Erscheinung für Begründung und Wesen der Rechtsverhältnisse
maßgebend ist. Daher das Erfordernis der Form für die Privatrechtsgeschäfte, daher die ver-
schiedenen Scheingeschäfte, daher die typischen Merkmale des bösen Glaubens, daher die Be-