Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 133 
burt verlangt wurde. Heiratetle ein Mann eine nicht standesgleiche Frau, so lag eine Mißheirat 
im engeren Sinne vor, welche nicht die vollen bürgerlichen Wirkungen einer Ehe hatte, da weder 
Frau noch Kinder den Namen und Stand des Vaters teilten und die Kinder gegenüber dem 
Vater und den väterlichen Verwandten kein Erbrecht besaßen. Dagegen wurde die höher stehende 
Frau durch die Ehe mit einem Ungenossen für die Dauer der Ehe in dessen Stand herabgezogen, 
die Kinder folgten auch hier der ärgeren Hand. Wirkungen der Mißheirat konnten auch vertrags- 
mäßig festgestellt werden durch Abschluß einer Ehe zur linken Hand, einer morganatischen Ehe 
(lauch matrimonium ad legem Salicam). Der Begriff der Ebenbürtigkeit war insofern ein 
schwankender, als in den verschiedenen Anwendungsfällen manchmal ein größerer, manchmal 
schon ein geringerer Abstand der Stände maßgebend wurde. 
II. Das Sachenrecht. 
§ 46. Die Gewere. Für Besitz haben die deutschen Rechtsquellen das Wort Gewere, 
vestitura, investitura. In der zuerst nachweisbaren Anwendung bedeutet das Wort den Akt, 
durch den ein Grundstück in rechtsförmlicher Weise übergeben wurde und der bisherige Besitzer 
den Besitz zu räumen erklärte. Nach älterem Rechte mußte die Handlung auf dem Grundstücke 
selbst als körperliche Vestitur erfolgen. Doch bildeten sich schon in fränkischer Zeit Formen einer 
unkörperlichen (symbolischen) Vestitur aus, die als konsensuale Besitzübertragung und Besitz- 
räumung mit Ubergabe bestimmter Symbole außerhalb des Grundstückes stattfand. 
Das Wort Gewere wurde dann auf die regelmäßige Konsequenz der Vestitur ausgedehnt, 
nämlich auf den Besitz als die typische äußere Erscheinung des Gewaltverhältnisses einer Person 
zu einer Sache. Dabei erstreckte man den Begriff der Gewere von den Liegenschaften auf die 
Fahrnis, von dem übertragenen Besitz auf den originär erworbenen Besitz. Gewere in diesem 
Sinne hatte an Liegenschaften, wer den Nutzen daraus zog. Die Nutzung konnte eine unmittel- 
bare oder, indem sie sich in dem Bezug von Diensten, Zinsen oder Zehnten äußerte, eine mittel- 
bare sein. Daher war es möglich, daß an einem Gute eine mehrfache Gewere bestand. Die 
Gewere am Gute schloß auch das bewegliche Zubehör in sich, insbesondere das Wirtschafts- 
inventar, das erforderlich war, um das Gut zu nutzen. An beweglichen Sachen hatte die Gewere, 
wer sie in Gewahrsam hatte. Animus domini war kein Merkmal der Gewere. Die Gewere 
war vererblich, d. h. der Erbe rückte mit dem Tode des Erblassers in dessen Besitzposition ein. 
Je nach dem Inhalte des Rechtes, in dessen Ausübung die Gewere sich äußerte, wurden Eigen- 
gewere, Gewere zu Leibzucht, Gewere zu Lehnrecht, Satzungsgewere usw. unterschieden. Gewere 
war nicht bloß an körperlichen Sachen, sondern auch an Rechten möglich, die eine dauernde Aus- 
übung zuließen. 
Die Gewere gab die Befugnis der Selbsthilfe. Fremde Gewere durfte nicht durch Eigen- 
macht gebrochen werden. Eigenmächtiger Bruch fremder Gewere machte strafbar. Klagen 
um Liegenschaften waren Klagen wegen rechtswidriger Entziehung oder Vorenthaltung der 
Gewere; Klagen um Fahrnis beruhten auf unfreiwilligem Verlust der Gewere. Doch kannte 
das ältere deutsche Recht keinen selbständigen Besitzprozeß. Erst seit dem 13. Jahrhundert tauchten 
im Anschluß an die Landfriedensbewegung vereinzelte Ansätze eines possessorischen Ver- 
fahrens auf. 
Die Gewere begründete die Vermutung des Rechtes. Sie gewährte daher im Rechts- 
streite gewisse Vorteile. Der Besitzer hatte die Rolle des Beklagten. Gegen die schlichte Klage 
wehrte er sich mit seinem Eide. Der Kläger mußte ihm gegenüber, wollte er diese Art der Ver- 
teidigung abschneiden, die Verpflichtung zur Einräumung der Gewere nachweisen. 
An Liegenschaften wurde in gewissen Fällen jemand eine Gewere zugeschrieben, obwohl 
nicht er, sondern ein anderer das Grundstück besaß. Wie die Vestitur bei Übergabe von Grund- 
stücken eine unkörperliche sein konnte, so gab es als deren Konsequenz auch eine unkörperliche, 
eine sogenannte ideelle Gewere. Eine solche erwarb man durch Auflassung eines Grundstücks. 
Wer sie empfangen, hatte die Befugnis, sich in den Besitz zu setzen oder sich gerichtlich einweisen 
zu lassen. Der Auflasser hatte ja ihm gegenüber den Besitz zu räumen erklärt. Unkörperliche 
Gewere hatte ferner der gewaltsam Entwerte gegen den Entwerer, solange dessen eigenmächtig 
erworbene und daher fehlerhafte (unrechte) Gewere noch nicht überjährig war. Ebenso der
	        
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