Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

10 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 
§ 7. Hegel und die Späteren. 
Die Rechtsphilosophie als Wissenschaft begründet zu haben, nach Uberwindung der 
Scholastik und des Naturrechts, ist die unsterbliche Tat Hegels; er war seit den Zeiten der 
Scholastik der erste, der das Recht wieder mit der Weltentwicklung in Verbindung brachte und 
ihm dadurch einen neuen, unendlichen Hintergrund gab. Diese Tat ist um so erstaunlicher, 
wenn wir die Vorgänger betrachten und namentlich auch Kant. Kant war natürlich in- 
folge seines Kritizismus metaphysisch haltlos, und seine Weltanschauung gab ihm keine Grund- 
lage, weder für Moral noch für Recht. Er konnte sich deshalb nur ein dürftiges Nest für seine 
Rechtsphilosophie bauen aus dem Uberrest naturrechtlicher, individualistischer Anschauungen, 
so daß er zu dem Satze geriet: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die 
Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zu- 
sammen bestehen kann.“ 
Wesentlich ist also, daß möglichst die Willkür eines jeden gewahrt wird, und die gegen- 
seitige Willensbeschränkung ist das Recht, — eine unwürdige Ansicht, die noch überboten wird 
durch seine empörende Darstellung von der Ehe, die darauf abziele, daß der eine Ehegatte dem 
anderen seine Geschlechtsorgane und damit seinen ganzen Körper gewissermaßen sachlich über- 
antworte. (Rechtslehre, Einleitung § C; I, 2, § 25.) Der Kantsche kategorische Imperativ 
aber ist nichts anderes, als „die im einzelnen nachklingende Mahnung der sozialen Gesamtheit"“ 
kraft „des Zusammenhangs des Einzelnen mit der Menschheit und ihrem jahrhundertelangen 
Wirken“ 1. 
Auch Fichte bleibt im wesentlichen Naturrechtler, so insbesondere, was seine Lehre 
vom Staat und vom staatlichen Strafrecht angeht, während er sich sonst bedeutend über Kant 
erhebt, insbesondere in seiner Charakteristik der Ehe 2. 
Schelling hat durch seine Ausführungen über den Volksgeist und vor allem durch Be- 
gründung der Identitätsphilosophie der Rechtsphilosophie mächtig vorgearbeitet 3. 
Hegel kann im Gegensatz zu Kant auf die großen Ergebnisse der Identitätsphilosophie 
bauen; ihm ist die Weltentwicklung das Ewige, und aus dieser Entwicklung entspringt das Recht. 
Er konstruiert das Recht als die Idee der Freiheit und knüpft damit an seine ganze 
metaphysische Weltanschauung an; denn wenn der Weltgedanke sich durch Freiheit, d. h. durch 
freie Einzelwesen, zutage ringt, so kann er dies nur tun in der Art des Rechts: das Recht ist 
also die Art und Weise, wie das große Allgemeine sich durch freie Einzelwesen seine Entwicklung 
schafft; und damit ist von selbst gegeben, daß das Recht ein Ausfluß des Weltwesens ist, in dem 
wir alle sind und weben; es ist also der große Pantheismus Hegels, vergleichbar dem indischen 
Pantheismus, der in seinem Rechtssystem waltet 4. 
Die großen Ideen Hegels allerdings gingen auf ein kleines Geschlecht über; denn geradezu 
verwunderlich ist es, wenn schwache Nachfolger, z. B. Röder (Grundzüge des Naturrechts, 
2. Aufl. I, S. 261), sich an diesen Sätzen verkünsteln, vergleichbar einem Lahmen, der sich einen 
Berg hinauf zwingen möchte. Er meint, die sittliche Freiheit sei, wenngleich ein Gut des Lebens, 
weder das ganze Gute noch das Recht selbst; sie sei nur die Form, nicht der Inhalt des vernunft- 
gemäßen Lebens, und was derartige Bemerkungen mehr sind. Der großartige Pantheismus 
Hegels und die Bedeutung, welche die Idee und der Kultus der Freiheit in der Gestalt der Rechts- 
ordnung in seinem Pantheismus hat, ist diesen Nachfolgern verborgen geblieben . 
Und der große Satz: was wirklich ist, ist auch vernünftig, den Hegel 
in der Einleitung zu seiner Philosophie des Rechts ausspricht, dieser vielgeschmähte, viel- 
1 Arch. f. Rechtsphil. III S. 168. 
* Bgl. meine Analyse des Fichteschen Naturrechts im Arch. f. Rechtsphil. III S. 172. Seine 
Sittenlehre zeigt (insbesondere was die Pflicht der Wahrhaftigkeit betrifft) große Übertreibungen. 
üÜbrigens hat sein System verschiedene Wandelungen durchgemacht, auf welche hier nicht ein- 
zugehen ist, vgl. R a v à, Introduzione allo studio della filosofia di Fichte (1910). 
* Bal. über ihn Arch. f. Rechtsphil. 1 S. 487 f. 
WB9gl. meine Arbeit: Hegels Rechtsphilosophie, im Archiv f. Rechtsphil. V S. 104. BVgl. auch 
meine Schrift „Recht“ S. 7 f. Eine neue vorzügliche Ausgabe der Hegelschen Rechtsphilosophie 
ist von Georg Lasson (1911). 
* Treffend hiergegen Lasson, System der Rechtsphil. S. 271.
	        
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