1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 145
Hofe vorhandenen Speisevorrats, und das Wittum, das entweder in dem lebenslänglichen Nieß-
brauch an Grundstücken (Leibgedinge, Leibzucht) bestand oder aber zu Ursal, d. h. in frei ver-
äußerlichem und vererblichem Eigentum an Liegenschaften, bestellt wurde. Bei Auflösung
der Ehe durch den Tod der Frau fiel ihre Gerade an ihre nächste weibliche Verwandte (Niftel-
gerade).
§ 54. Die Kindschaft. Das Kind steht unter der Mundschaft und Gewalt des Vaters,
die so lange dauert, als es im Hause des Vaters lebt, in dessen Were sitzt. Der Vater hat das
Vermögen des Kindes in Verwaltung und Nutzung, haftet aber für dessen Missetat. Mündig-
keit oder Großjährigkeit ist an sich ohne Einfluß auf den Bestand der väterlichen Gewalt. Diese
erlischt durch den Tod des Vaters, durch Austritt aus der väterlichen Hausgenossenschaft und
durch rechtsförmliche Aufhebung. Der Austritt geschah bei Töchtern durch die Verheiratung,
bei Söhnen, indem sie einen selbständigen Haushalt begründeten oder in eine fremde Haus-
genossenschaft eintraten. Die Begründung wirtschaftlicher Selbständigkeit erfolgte von seiten
der Söhne wohl meistens mit ihrer Verheiratung. Sofern dies nicht der Fall war, verlangen
jüngere Quellen, zumal fränkische Stadtrechte, einen rechtsförmlichen Akt, durch den der Vater
vor Gericht den Sohn aus seinem Brote scheidet, indem er ihm zugleich ein gewisses Einkommen
anweist, eine Handlung, welche exseparare, emancipare, forisfamiliare, aus Brot und Pflicht
tun genannt wird. Nach manchen Rechten vermag diese Förmlichkeit eine selbständige recht-
liche Wirkung zu äußern; der Sohn gilt kraft derselben auch dann für emanzipiert, wenn er im
Hause des Vaters verbleibt, oder doch, wenn er nach längerer, gesetzlich befristeter Abwesenheit
dahin zurückkehrt. Eine Aufhebung der väterlichen Gewalt führte in ältester Zeit die Aufnahme
in die Gefolgschaft herbei, weil sie den Eintritt in eine fremde Hausgenossenschaft, nämlich in
die des Gefolgsherrn, zur Folge hatte.
Das uneheliche Kind, Winkelkind (hornung, horning) hatte noch in der Zeit der Volks-
rechte eine verhältnismäßig günstige Stellung. Vom Vater anerkannt, gehörte es dem väter-
lichen Hause an, wenigstens dann, wenn es in öffentlichem Konkubinat (in einer Kebs- oder
Friedelehe) mit einem freien Weibe erzeugt worden war. Uneheliche Söhne hatten ein be-
schränktes oder doch ein subsidiäres Erbrecht gegen den Vater. Erst unter dem Einfluß der Kirche
ist die Stellung der Unehelichen bis zur „Rechtlosigkeit“ verschlechtert worden. Sie verloren
jedes Erbrecht gegen den Vater. Ja, nach manchen Rechten, welche die rechtliche Stellung
der von unfreien Mägden geborenen Bastarde auf alle Winkelkinder ausdehnten, darbten sie
auch der Mutter gegenüber des Erbrechts. Bei den Friesen blieben wenigstens Zuwendungen
des Vaters an das uneheliche Kind (Horningsgaben) gestattet und durch die Sitte geboten. Auch
geht der Alimentationsanspruch, den nachmals das gemeine Recht dem unehelichen Kinde gegen
den Erzeuger gewährt, auf deutschrechtliche Grundlagen zurück.
§ 55. Die Bormumdschaft. In dem engeren Sinne, in welchem wir das Wort Vor-
mundschaft gegenwärtig verwenden, tritt die Familienvormundschaft bei solchen schutz-
bedürftigen Personen ein, welches es an der väterlichen bzw. ehelichen Mundschaft gebricht.
Sie steht ursprünglich der Sippe in ihrer Gesamtheit zu, welche einen aus ihrer Mitte zur Ver-
waltung der Vormundschaft bestellt. Da man hierzu, wie es in der Natur der Sache lag, regel-
mäßig den nächsten Schwertmagen des Mündels, d. h. den nächsten männlichen Verwandten
männlicher Linie, wählte, bildete sich der Rechtssatz, daß dieser der geborene Vormund sei. Im
Verhältnis zu den geborenen Vormündern äußert sich das Recht der Sippe als Obervormund-
schaft. Sie hat das Recht der Aufsicht, das Recht des Konsenses, namentlich bei der Verheiratung
des Mündels und vielfach auch bei Veräußerungen von Mündelgut, und das Recht, den Vormund
wegen schlechter Verwaltung abzusetzen. In Bedürfnisfällen macht sie hier und da auch die
Befugnis geltend, einen Vormund zu bestellen. Mit der Obervormundschaft der Sippe tritt,
zuerst in den Städten, die Obervormundschaft der Obrigkeit in Konkurrenz, für die sich schon
in der fränkischen Zeit theoretische Ansätze ausgebildet hatten. Das endgültige Ergebnis dieser
Entwicklung, welche zum Teil über die Zeitgrenze dieser Periode hinausfällt, war ein ver-
schiedenes. Entweder hat die Staatsgewalt die Obervormundschaft vollständig an sich gezogen,
was ihr namentlich dort gelang, wo die Obervormundschaft der Sippe dem geborenen Vor-
Encyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band I. 10