Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

146 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
munde gegenüber nur noch wenig zu bedeuten hatte. Oder der Staat hat die Sippe mediati- 
siert, was besonders früh in den flandrischen und niederländischen Städten geschah, indem er 
sie zu einem Organ der Vormundschaftsverwaltung, nämlich zum Familienrate herabdrückte. 
Die Familienvormundschaft ist Altersvormundschaft oder Geschlechtsvormundschaft oder 
Vormundschaft über Toren und Sinnlose. Der Altersvormundschaft bedürfen die Unjährigen, 
d. h. jene, welche die Jahre der Mündigkeit noch nicht erreicht haben. Die Jährigkeitstermine 
waren in den einzelnen Stammesrechten verschieden bestimmt. Anfänglich verhältnismäßig 
früh angesetzt, erfuhren sie später eine Verschiebung, indem die Dauer der Unjährigkeit — mit- 
unter zunächst in den höheren Berufsklassen — ausgedehnt wurde. Die ältesten Termine waren 
das zehnte (ursprünglich bei den Angelsachsen) und das zwölfte Jahr (bei Salfranken, Friesen 
und Sachsen). Durch Erhöhung um die Hälfte sind daraus die Termine von fünfzehn (Ribuarier) 
und achtzehn Jahren (Langobarden seit Liutprand) hervorgegangen. Der Unjährige war nicht 
schlechtweg geschäftsunfähig. Doch konnte er das von ihm abgeschlossene Rechtsgeschäft nach 
erreichter Jährigkeit widerrufen. Zu einer vollkommenen gerichtlichen Vertretung der Un- 
jährigen sind die meisten Volksrechte noch nicht gelangt. Prozesse um Erbgut des Unjährigen 
blieben nach fränkischem Rechte bis zum Eintritt der Fährigkeit suspendiert. 
Der Sachsenspiegel kennt als den Termin, mit dem man mündig wird, „zu seinen Jahren 
kommt“, noch das zwölfte Jahr. Personen, die bereits zu. ihren Jahren gekommen sind, aber 
noch nicht das 21. Jahr vollendet haben, „noch nicht zu ihren Tagen gekommen sind“, und solche, 
die über ihre Tage hinaus sind (60. Jahr), haben nach Sachsenrecht die Befugnis, sich einen 
Vertreter zu wählen, dessen Stellung gleichfalls unter den Gesichtspunkt der Vormundschaft 
gebracht wird. Die Stellung des geborenen Vormundes gestaltete sich verschieden in den ein- 
zelnen Rechten, wobei ins Gewicht fällt, ob die Hausgemeinschaft zwischen Vormund und Mündel 
als Regel gedacht war oder nicht. Im allgemeinen führte der Vormund die Verwaltung des 
Mündelgutes, für die er Sicherheit bestellen mußte, und über die er nach manchen Rechten Rechen- 
schaft abzulegen hatte, während ihm nach anderen am Mündelgute, das „nicht wachsen noch 
schwinden“ konnte, eine tutela usufructuaria gebührte. Außerdem stand dem Vormunde die 
gerichtliche Vertretung und die Vertretung oder Witwirkung bei Rechtsgeschäften zu. 
Unter Geschlechtsvormundschaft standen die Weiber ihr Leben lang. Vormund war ihr 
nächster Schwertmage, über die Ehefrau der Ehemann, über die Witwe der nächste Schwert- 
mage des verstorbenen Mannes, wenn aber der Mann ihr nicht ebenbürtig gewesen war, der 
nächste Schwertmage ihrer eigenen Sippe. 
V. Das Erbrecht. 
*# 56. Der Erbgang. Das germanische Erbrecht war ein Familienrecht. Die Erben 
waren geborene, nicht gekorene, soweit nicht nach einzelnen Rechten die Blutsverwandtschaft 
durch Adoption ersetzt werden konnte. Unbekannt oder unstatthaft waren letztwillige Ver- 
fügungen. 
Die Anfänge des Erbrechtes weisen auf eine Vermögensgemeinschaft zurück, die bei Leb- 
zeiten des Erblassers zwischen ihm und den in seinem Haushalte vereinigten Erben bestand. 
Den Sohn, der sich selbständig machte, fand ursprünglich die Abschichtung, die Tochter, die der 
Ehemann heimführte, fand die Ausstattung für den Anteil am Hausvermögen ab. Wenn die 
Gemeinschaft sich durch den Tod des Erblassers auflöste, so erhielt der Tote selbst seinen Anteil 
daran. Ihm gebührte nämlich der sogenannte Totenteil, eine Quote des beweglichen Nach- 
lasses, nicht selten ein Drittel, oder ein Inbegriff bestimmter Gegenstände, z. B. Pferd oder 
Rind, Gewand und Waffen. Der Totenteil wurde zur Bestattung und zur Trauerfeier ver- 
wendet; indem er mit verbrannt oder begraben wurde, gab man ihn dem Verstorbenen ins 
Jenseits mit. Reichte der Nachlaß des Verstorbenen nicht aus, um ihn gehörig auszustatten, 
so wurde wohl auch fremde Habe widerrechtlich dazu verwendet. Die älteste Satzung des 
alamannischen Rechtes setzt besondere Bußen für den Fall, daß man seinem Toten fremdes 
Gut ins Grab legt. Als nach der Christianisierung der Germanen die Kirche die Sorge für das 
Heil der Verstorbenen im Jenseits übernommen hatte, gestaltete sich der Totenteil zum Seel- 
gerät, Seelteil oder Seelschatt. Der Tote empfing nunmehr seinen Anteil an der Erbschaft da- 
durch, daß er zum Heil seiner Seele der Kirche oder den Armen zugewendet wurde.
	        
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