1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 147
Antretung der Erbschaft war nicht erforderlich. „Der Tote erbt den Lebendigen.“ Der
Erbe wurde nach dem Tode des Erblassers an sich als Besitzer des Nachlasses angesehen. „Le
mort saisit le vif.“
Die Auseinandersetzung durfte unter den Erben erst stattfinden, nachdem der dreißigste
Tag nach dem Tode des Erblassers abgelaufen war. Die Zeit bis zum Dreißigsten, die mit einer
religiösen Feier abschloß, war Trauerzeit; diese sollte nicht durch Umkehrung des Hauswesens
gestört werden. Solange blieb die Witwe und blieb das Gesinde im Sterbehause. So lange
war der Erbe gegen Ansprüche der Nachlaßgläubiger geschützt.
Für die Erbteilung galt der Grundsatz: Der Altere teilt, der Jüngere wählt. Nicht selten
blieben die mehreren Erben nach dem Tode des Erblassers als sogenannte Ganerben in un-
geteilter Erbschaft sitzen.
Der Gedanke der Hausgemeinschaft wirkte nach der Ausbildung eines von ihr unabhängigen
Erbrechtes insofern nach, als innerhalb des Kreises der Blutsverwandten ein engerer Erben-
kreis unterschieden wurde, der in den verschiedenen Rechten verschiedenartig abgegrenzt war,
aber regelmäßig die Kinder, die Eltern und die Geschwister des Erblassers umfaßte. Zunächst
waren die Nachkommen zum Erbe berufen, unter diesen zuerst die Kinder. Enkel hatten an-
fänglich, wenn Kinder des Erblassers vorhanden waren, neben diesen kein Erbrecht. Fehlte
es an Nachkommen, so erbten die Eltern, in deren Ermangelung die Geschwister. Den weiteren
Erbenkreis bildete die Magschaft im engeren Sinne. Erst von da ab fühlte man das Bedürfnis,
die Sippe zu zählen und zu beweisen.
Die Gliederung der Sippe beruhte auf der Gruppierung der Blutsverwandten nach so-
genannten Parentelen, Linien, Gliedern oder Knien. Die gesamte Verwandtschaft schichtete
sich nach näheren oder entfernteren Nachkommenschaften oder Parentelen. Eine Parentel
bildeten jene Personen, die durch den nächsten Stammvater verbunden waren. Die nähere
Parentel erbte vor der entfernteren. Innerhalb der Parentel entschied die Entfernung vom
gemeinsamen Stammvater. Die Ursprünglichkeit der Parentelenordnung ist bestritten. Jeden-
falls reicht sie in hohes Altertum hinauf. Für den agnatischen Sippeverband der Urzeit war
die Gliederung nach Nachkommenschaften von selbst gegeben. Als die Kognaten an den Rechten
und Pflichten der Sippe teilhatten, gelangte man zur Einteilung der Magschaft in Hälften
(Vater= und Muttermagen), hier und da auch in Viertel oder Kluften (Großelternstämme) und
Achtel oder Fachten (Urgroßelternstämme). Mitunter rechnete man nicht nach den Stammes-
häuptern, sondern nach Stammgeschwisterpaaren. Zählte man die Magschaft in einer Sippe
auf der mit der Ausgangsperson gleichen Querlinie, so kam man zur Zählung nach Vetter-
schaften, die sich namentlich in Ansehung der Teilnahme an Fehde und Wergeld empfahl, weil
sie als Vertreter der Parentelen die mit der Ausgangsperson gleichaltrige Generation ins Auge
faßte. In manchen Rechten erfuhr die Parentelenordnung Modifikationen und Trübungen.
Die Vorfahren wurden vom Erbe ausgeschlossen oder hinter Seitenverwandten zurückgesetzt.
Anderwärts ließ man alle Vorfahren vor den Seitenverwandten erben, so daß die Verwandt-
schaft in drei Linien (Nachkommen, Vorfahren und Seitenverwandte) zerfiel. In Rechten,
die den Gedanken des hausgemeinschaftlichen Erbrechts festhielten und die normalen Abschichtungs-
verhältnisse zugrundc legten, wurden die Brüder vor Enkeln und entfernteren Deszendenten
bevorzugt und erfolgte wohl auch innerhalb der entfernteren Verwandtschaft ein grundsätzlicher
Bruch mit der Parentelenordnung.
Die männlichen Verwandten waren vor den weiblichen, die Speerseite vor der Spindel-
seite bevorzugt. Einst scheinen die Weiber völlig vom Erbe ausgeschlossen gewesen zu sein.
Doch hatten sie Anspruch auf Unterhalt im Hause und auf Aussteuer im Falle der Verheiratung.
Jener Grundsatz erlitt schon früh eine verschiedenartige Einschränkung. Die Weiber erhielten
ein Erbrecht zunächst im engeren Erbenkreise, sofern sie nicht durch Ausstattung ihren Anteil
am Hausvermögen vorweg empfangen hatten. In den meisten Rechten, so im langobardisch-
sächsischen, im bayrischen und schwäbischen Rechte, schloß der Sohn die Tochter völlig vom Erbe
wenigstens des Vaters aus. Nach friesischen Rechten nahm sie einen geringeren Anteil, sie
saßte nur „mit halber Hand“ an das Erbe. Anderwärts teilte sie die nachgelassene Fahrnis mit
dem Sohne, blieb aber hinsichtlich des Grundbesitzes zurückgesetzt, so namentlich im fränkischen
Rechte, wo der Grundbesitz oder doch der ererbte Grundbesitz schlechtweg dem Mannesstamme
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