Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 149 
In Fällen echter Not war der Erblasser an das Wartrecht der nächsten Erben nicht ge- 
bunden, wenn er das Gut, das er veräußern wollte, ihnen vergeblich zum Vorkauf angeboten 
hatte. Vielfach ist das Beispruchsrecht zu einem Vorkaufsrechte abgeschwächt worden oder 
zu einem Einstands- oder Retraktrechte, kraft dessen der nächste Erbe das ohne seinen Konsens 
verkaufte Gut binnen Jahr und Tag gegen Eintritt in die Verkaufsbedingungen an sich ziehen 
konnte. Ein solches Retraktrecht hat sich zugunsten des nächsten Erben und bei anderen Rechts- 
verhältnissen auch selbständig entwickelt. Soweit das Beispruchsrecht sich erhielt, ist es regel- 
mäßig auf das ererbte Gut des Erblassers beschränkt, dagegen für das Gewinngut beseitigt 
worden. 
Gestattet war von alters her, daß der Erblasser bei Lebzeiten sein Gut an den nächsten 
Erben abtrat gegen lebenslänglichen Unterhalt und angemessenes Begräbnis, oder indem er 
sich eine Quote seines Besitztums für Lebenszeit vorbehielt. Das Geschäft findet sich schon in 
einer fränkischen Formelsammlung des 7. Jahrhunderts und ist seit dem 13. Jahrhundert in 
fränkischen und friesischen Gegenden unter der Bezeichnung „evelganc“ nachzuweisen. Als 
Gutsabtretung gegen Altenteil kommt es noch jetzt in einem großen Teile Deutschlands in An- 
wendung. 
Wo die dargestellten Rechtssätze über Bevorzugung des Mannsstammes, über das Hand- 
gemal und über das Wartrecht, welche die Erhaltung des Grundbesitzes im Mannsstamme be- 
förderten, entweder nicht in Geltung waren oder nicht mehr galten oder nicht als ausreichend 
erschienen, konnte man besondere Verfügungen treffen, vermöge deren gewisse Güter auf die 
Dauer im Mannsstamme erhalten blieben. Bei den Angelsachsen finden sich schon vom 8. Jahr- 
hundert ab Zuwendungen von Grundstücken mit der Bestimmung, daß sie unveräußerlich im 
Mannsstamme des Bedachten verbleiben sollen. In Deutschland tauchten Rechtsgeschäfte ähn- 
licher Tendenz erst später auf. Man benutzte hier die Vergabung zu gesamter Hand mit Aus- 
schließung der kognatischen Erbfolge. Das unter den Gesamthändern begründete Verhältnis, 
bei welchem Teilung und Veräußerung in der Regel ausgeschlossen sind, wird vielfach als Gan- 
erbschaft bezeichnet. Die dahin abzielenden Rechtsgeschäfte heißen Burgfrieden, Stamm- 
vereine, Erbeinigungen und bilden die Vorläufer der späteren Fideikommißstiftungen. Seit 
dem 14. Jahrhundert finden sich dabei auch Anordnungen einer bestimmten Individualsukzession. 
Vergabungen von Todes wegen waren ursprünglich unzulässig, weil der Erblasser dadurch 
die vergabte Sache nach der Auffassung der Zeit nicht sich, sondern seinen Erben entzog. Doch 
kannte das ältere Recht die Möglichkeit, daß ein kinderloser Erblasser sein Vermögen jemand auf 
den Todesfall zuwendete, indem er ihn durch Adoption zum Erben machte. Dieses Geschäft 
hieß bei den Langobarden thinz, gairethinx, bei den Franken adfatimus. Ganz allgemein 
waren seit dem 7. und 8. Jahrhundert, namentlich zugunsten von Kirchen, donationes post 
obitum zulässig und üblich, durch traditio cartae vollzogene Rechtsgeschäfte, kraft deren das 
Eigentum an dem vergabten Gegenstande nach dem Tode des Schenkers dem Bedachten zu- 
stehen sollte, während dem Schenker selbst die lebenslängliche unveräußerliche proprietas ver- 
blieb. Im jüngeren Mittelalter entwickelten sich dann zuerst in Süddeutschland im Anschluß 
an die Vergabung von Todes wegen die Erbverträge, rechtsförmliche Verträge, die dem Erb- 
lasser die Verfügung über sein Gut unter Lebenden vorbehielten, aber dem Bedachten ein un- 
entziehbares Erbrecht daran einräumten. 
Letztwillige Verfügungen stellte die Kirche unter ihren Schutz. Sie verlangte die Gerichts- 
barkeit in Testamentssachen und begehrte die Erfüllung des letzten Willens als eine sittliche Pflicht. 
Im weltlichen Rechte wurden letztwillige Verfügungen, Geschäfte oder Gemächte genannt, zu- 
nächst für den Seelenteil, dann darüber hinaus als rechtsverbindlich anerkannt. Doch ent- 
hielten sie nicht Erbeinsetzungen im römischen Sinne, sondern nur einzelne Vermächtnisse. Um 
deren Ausführung vom guten Willen des gesetzlichen Erben unabhängig zu machen, bediente man 
sich gewisser Mittelspersonen, Treuhändler, erogatores, Exekutoren, denen die Nachlaßregulierung 
übertragen wurde, eine Einrichtung, aus der das Institut der Testamentsvollstrecker hervor- 
ging. Testamente im römischen Sinne kamen in Deutschland erst mit der Aufnahme der fremden 
Rechte in Ubung.
	        
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