1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 155
im wesentlichen das preußische Landrecht. Allein, aus der Dienstpflicht und aus den Beschrän-
kungen der Freizügigkeit konstruierte man mit Hilfe römischer Belegstellen Ende des 16. Jahr-
hunderts den Begriff der Leibeigenschaft. Die Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges,
der Einfluß des polnischen Rechtes und die Schwankungen des Sprachgebrauches ermöglichten
es, in einzelnen Ländern die praktischen Konsequenzen jener Theorie zu ziehen. Der Leib-
eigene galt als pars kundi, d. h. des Rittergutes, zu dem er gehörte. Hof und Land, die ihm
der Herr überlassen, besaß er nur auf Widerruf. Wenn der Herr sie ihm nahm, mochte er ihn
als Gutstagelöhner beschäftigen. Der Leibeigene war zu ungemessenen Fronden verpflichtet.
Ja, es wurde hier und da Rechtens, daß der Herr ihn beliebig veräußern konnte.
Erst der Absolutismus der Staatsgewalt griff bessernd in die Lage der Bauern ein, indem
er auf dem Umwege der allgemeinen Untertanenschaft den Begriff des allgemeinen Staats-
bürgertums schuf. Die Leibeigenschaft, sowohl die westdeutsche als die ostdeutsche, wurde zum
Teil im 18., zum Teil im 19. Jahrhundert von Staats wegen aufgehoben. In Preußen erfolgte
zunächst der Rückschlag gegen die juristische Mißbildung der Leibeigenschaft. Sie wurde zuerst
auf den königlichen Domänen unter Friedrich Wilhelm I., dann für die östlichen Provinzen
1773 von Friedrich dem Großen, allgemein durch das preußische Landrecht aufgehoben. Doch
blieb vorläufig die Erbuntertänigkeit, und zwar in gemilderter Form, bestehen, um erst durch
das Steinsche Edikt von 1807 beseitigt zu werden.
§ 61. Die Aufnahme der fremden Rechte. Spricht man von der Rezeption der fremden
Rechte, so meint man damit das römische Recht, das kanonische Recht und das langobardische
Lehnrecht. Die Aufnahme des römischen Rechtes, in dessen Gefolge die zwei anderen fremden
Rechte rezipiert wurden, hat sich in Deutschland nicht durch einen plötzlichen Akt vollzogen,
sondern ist das Ergebnis eines langdauernden Prozesses, in welchem wir das Stadium der
theoretischen und jenes der praktischen Rezeption unterscheiden können. Die theoretische Rezep-
tion liegt in dem Aufkommen der Uberzeugung, daß das römische Recht in Deutschland Anspruch
auf Geltung habe. Die praktische besteht in dem Eindringen des römischen Rechtes in die deutschen
Gerichte. Jene reicht in das 12. Jahrhundert zurück und wurzelt in dem Gedanken, daß das
heilige römische Reich eine Fortsetzung des alten römischen Reiches bilde, daß demnach die Gesetze
der römischen Kaiser Gesetze der Vorfahren der deutschen Könige seien und als solche subsidiäre
Kraft hätten. Die Beziehungen, in welche die Könige aus dem Hause der Staufer zu den
Lehrern des römischen Rechts in Italien traten, boten der Verbreitung und Vertiefung dieser
Idee reichliche Nahrung. Sie wurde desto lebendiger und kräftiger, je üppiger im deutschen
Mittelalter der Partikularismus emporwuchs, und je mehr die örtliche Zersplitterung des ein-
heimischen Rechtes um sich griff, wie es denn überhaupt ein in der Geschichte des deutschen
Volkes öfter wiederkehrender Zug ist, daß der schroffste Partikularismus in einem schranken-
losen Universalismus seine Ergänzung gesucht und gefunden hat. Schon die Staufer Friedrich I.
und Friedrich II. hatten einzelne ihrer Gesetze dem corpus iuris civilis einfügen lassen. Lebhafte
romanisierende Tätigkeit entwickelten die Könige aus dem Hause der Luxemburger, namentlich
Karl IV., der u. a. die römischrechtlichen Bestimmungen über das crimen laesae maiestatis auf
die Kurfürsten ausdehnte. Vermittelt wurde die Kenntnis des fremden Rechtes der Nation
durch die Rechtsschulen Italiens, deren Weltruf auch aus Deutschland zahlreiche Schüler anzog,
schon aus dem rein praktischen Grunde, weil das damals in so viele Lebensfragen eingreifende
kanonische Recht sich in seiner Entwicklung vielfach an das römische Recht anlehnte. Zuerst
adußerte sich der fremdrechtliche Einfluß in der deutschen Rechtsliteratur. Der Schwabenspiegel
nahm bereits einige römische Rechtssätze in sich auf. In der Glosse zum Sachsenspiegel wurde
der Versuch gemacht, eine Konkordanz zwischen dem Sachsenrechte einerseits, den leges und
canones andererseits herzustellen. Noch größeren Einfluß hatte die Kenntnis des fremden
Rechts auf die Arbeiten des Nikolaus Wurm und des Stadtschreibers Johannes von Brünn.
Die praktische Rezeption hat ihre Wurzel in der Entstehung eines rechtsgelehrten Richter-
tums. Die fremdrechtlich geschulten Juristen wurden in Deutschland anfänglich nur in Ver-
waltungssachen verwendet. Zur Rechtsprechung gelangten sie zuerst am Hofe des Königs,
welcher Angelegenheiten, die er, zumal als Schiedsrichter, persönlich entschied, ihrem Rate
anheimgab, dann aber auch die Räte, mit denen er sein Kammergericht besetzte, zum Teil aus