Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

162 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
entwickelte. Trotz der Abneigung, die diese gegen legislatives Eingreifen hegte, ließ sich das 
Verlangen nach Rechtseinheit nicht auf die Dauer abweisen. Sie wurde zunächst auf dem Ge- 
biete des Verkehrsrechtes hergestellt. Auf Anregung des Zollvereins entstand der Entwurf 
einer Wechselordnung, der gemäß einem Beschluß der deutschen Nationalversammlung am 
27. November 1848 vom Reichsverweser Erzherzog Johann als Reichsgesetz verkündigt wurde, 
aber in dem größten Teile Deutschlands kraft landesrechtlicher Publikation als Landesgesetz 
in Kraft trat. Aus dem Schoße des Bundestags ging die Einsetzung einer Kommission hervor, 
welche zu Nürnberg und Hamburg den Entwurf eines Handelsgesetzbuches ausarbeitete. Dieser 
wurde durch Beschluß der Bundesversammlung vom 31. Mai 1861 den Regierungen der Einzel- 
staaten zur Annahme empfohlen, die im Wege der Landesgesetzgebung in den Jahren 1861 
bis 1865 erfolgte. Der Bund war noch mit weitgehenden Entwürfen, insbesondere mit der 
Abfassung eines gemeinsamen Obligationenrechts, beschäftigt; allein sie scheiterten an der Un- 
zulänglichkeit der Bundesverfassung. 
Während dem Deutschen Bunde jedes Recht der Gesetzgebung fehlte und die Bundes- 
beschlüsse formell nur als partikuläres Recht vermöge landesgesetzlicher Einführung in Kraft 
treten konnten, erhielt der Norddeutsche Bund das Recht der unmittelbaren Gesetzgebung mit 
der Maßgabe, daß die Bundesgesetze absolut gemeines Recht schaffen sollten. Die Bundes- 
verfassung überwies der Bundesgesetzgebung u. a. das Obligationenrecht, das Handels- und 
Wechselrecht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren. Diese Kompetenz in Sachen der 
Justizgesetzgebung ist unverändert in die Reichsverfassung übergegangen, aber dann durch ein 
Gesetz vom 20. Dezember 1873 auf das gesamte bürgerliche Recht ausgedehnt worden. Zudem 
wurden mit der Erweiterung des Bundes zum Reiche die norddeutschen Bundesgesetze zu Reichs- 
gesetzen erhoben. Abgesehen von zahlreichen Spezialgesetzen, wurde vom Bunde 1869 die Ge- 
werbeordnung erlassen, die Wechselordnung samt den Nürnberger Novellen und das Handels- 
gesetzbuch zu formell und absolut gemeinem Rechte gestaltet, 1870 das Strafrecht und das litera- 
rische Urheberrecht normiert, wurden vom Reiche 1877 die Gerichtsverfassung, der Zivil- und 
Strafprozeß und das Konkursrecht kodifiziert. Die Reichsgesetzgebung des ersten Jahrzehnts 
bewegte sich im allgemeinen noch in den Geleisen der individualistischen und kapitalistischen 
Wirtschaftstheorie. Im zweiten Jahrzehnt wendete sie sich davon ab und verfolgte mit steigendem 
Bewußtsein sozialpolitische Ziele, eine Wandlung, die sich namentlich in den zahlreichen Novellen 
zur Gewerbeordnung und in den Gesetzen über die Kranken-, Unfalls-, Alters- und Gebrechlich- 
keitsversicherung bemerkbar macht. 
Die schwierigste Arbeit, die Kodifikation des Privatrechts, wurde 1874 in Angriff ge- 
nommen. Eine durch den Bundesrat eingesetzte Kommission von Juristen arbeitete in erster 
Lesung einen Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich aus, der 1888 
veröffentlicht wurde. Er gab Anlaß zu erheblichen Bedenken. Seine Sprache war nichts 
weniger als volkstümlich, sondern gekünstelt und schwer verständlich. Die bedeutsame Wand- 
lung der Reichsgesetzgebung war an den Verfassern des Entwurfs spurlos vorübergegangen, 
denn er stand durchweg auf veraltetem, individualistischem Standpunkt. Sein Hauptgebrechen 
war abstrakter romanistischer Radikalismus und die Ablehnung lebensfähiger Rechtsgedanken 
und Rechtsinstitute deutschrechtlichen Ursprungs. Die Reichsregierung vermochte sich über 
die geäußerten Bedenken nicht hinwegzusetzen. Der Bundesrat berief 1890 eine neue Kom- 
mission, die jenen Entwurf einer gründlichen Revision unterzog. Der von ihr hergestellte Ent- 
wurf zweiter Lesung beseitigte zahlreiche wesentliche Mängel seines Vorgängers, ohne sich aber 
von dem Ubermaß abstrakter Kaguistik völlig zu befreien. Weitere Verbesserungen (zum Teil 
auch Verschlimmbesserungen) brachte die Beratung im Reichstage zustande. Das Bürgerliche 
Gesetzbuch datiert vom 18. August 1896 und trat am 1. Januar 1900 in Kraft. Es umfaßt nicht 
das gesamte Privatrecht, sondern überläßt eine Reihe von Materien den Landesrechten. Die 
Neugestaltung des bürgerlichen Rechtes machte die Abfassung von Nebengesetzen und die Um- 
arbeitung älterer Reichsgesetze notwendig. Das Handelzsgesetzbuch wurde einer Revision unter- 
zogen und in veränderter Gestalt mit einem Einführungsgesetz vom 10. Mai 1897 verkündet. 
Das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst erfuhr durch Gesetz vom 19. Juni 1901, 
das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie durch Gesetz vom 
9. Januar 1907 eine neue Regelung. Schließlich wurden auch die, anfänglich den Landesrechten
	        
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