1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 173
üblichen Verschleppungen vorzubeugen, beseitigte der jüngste Reichsabschied das artikulierte
Verfahren; er verpflichtete den Kläger, in der Klagschrift den Tatbestand kurz und nervose,
jedoch deutlich, distincte und klar (sogenannte Geschichtserzählung) auszuführen mit Anhängung
der Klagbitte; er legte dem Beklagten auf, im ersten Termin auf alle Punkte der Klage bestimmt
zu antworten und sämtliche Einreden bei Strafe der Präklusion anzubringen. Der Kläger konnte
in einem zweiten Termine replizieren, der Beklagte in einem dritten Termine duplizieren.
Bei Ungehorsam des Beklagten sollte nicht mehr auf Einsatz und Acht verfahren, sondern über
den Beweis der Klage in der Sache gegen den Beklagten erkannt werden. Auf dem Wege des
Gerichtsgebrauches bildete das gemeine Zivilprozeßrecht im weiteren Verlauf seiner Entwicklung
unter dem Einfluß der sächsischen Juristen Mevius und Carpzov ein spezialisiertes Beweisurteil
aus, das die einzelnen für die Entscheidung des Rechtsstreites maßgebenden Tatsachen zum
Beweisse stellte.
Durch die neuere Partikulargesetzgebung sagte sich der größere Teil Deutschlands von
den Grundsätzen des gemeinen Zivilprozeßrechtes los. In Preußen schritt man zu einer völligen
Neugestaltung des Verfahrens, die in der allgemeinen Gerichtsordnung von 1793/95 ihren
Abschluß fand, mit dem Verhandlungsprinzip und mit der Eventualmaxime brach und das
Untersuchungsprinzip in den bürgerlichen Rechtsgang einführte. Links des Rheins blieb nach
Beseitigung der französischen Herrschaft das französische Prozeßrecht in Geltung, das auf den
Grundlagen der Offentlichkeit und Mündlichkeit beruhte. Es diente der deutschen Landes-
gesetzgebung seit 1848, insbesondere der hannoverschen Prozeßordnung vom 8. November 1850,
zum Vorbild. Im Anschluß an die damit angebahnte Reformbewegung schuf die Reichszivil-
prozeßordnung vom 30. Januar 1877 ein Verfahren, das auf die Verhandlungsmaxime, auf
die Offentlichkeit und Mündlichkeit, auf den unmittelbaren Prozeßbetrieb der Parteien und
auf das Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung gebaut ist. Nach Abfassung des
Bürgerlichen Gesetzbuchs wurde die Zivilprozeßordnung in neuer Redaktion vom 20. Mai 1898
verkündigt.
V. Das Privatrecht.
8 76. Auf dem Gebiete des Privatrechtes hat die Rezeption der fremden Rechte zwar
sehr intensiv gewirkt, aber durchaus nicht etwa das gesamte deutsche Recht außer Kraft gesetzt.
Es erhielt sich für Rechtsverhältnisse, die dem römischen Rechte unbekannt waren, wie die Real-
lasten. Römisches Recht wurde nicht ausgenommen, wenn das betreffende römische Rechts-
verhältnis in Deutschland fremd war, wie das bezüglich der römischen Sklaverei zutraf. Rechts-
verhältnisse, die beide Rechte kannten, hatten häufig dieselbe Normierung, oder es hatte sich das
deutsche Recht der des römischen bereits genähert. Dann trat wenigstens nichts durchaus Fremdes
an die Stelle des Alten. Von einem eigentlichen Kampfe konnte nur so weit die Rede sein,
als beide Rechte dasselbe Verhältnis verschieden normierten. Das Ergebnis war ein verschiedenes.
Entweder wurde der deutsche Rechtssatz ausgestoßen oder die Rezeption des römischen abgelehnt,
oder es fand eine gegenseitige Modifikation statt, eine Verschmelzung römischrechtlicher und
deutschrechtlicher Grundsätze. Nicht selten hat ein deutschrechtliches Institut nur ein römisch-
rechtliches Gewand oder einen römischen Namen erhalten, so z. B. dadurch, daß man die Auf-
hebung der väterlichen Gewalt durch Gründung einer selbständigen Wirtschaft als emancipatio
auffaßte. Sogar völlig neue Rechtsinstitute bildeten sich durch Verquickung römischer und
deutscher Rechtsideen, so das Familienfideikommiß. Weder das römische noch das deutsche
Recht sind seit der Rezeption auf ihrem damaligen Standpunkte stehen geblieben; beide haben
sich seitdem fortgebildet. Namentlich das moderne Verkehrsrecht schuf eine große Anzahl neuer
Einrichtungen, für die es dem römischen Rechte an Vorbildern fehlt.
Im allgemeinen läßt sich das Verhältnis beider Rechte für das ausgehende 19. Jahr-
hundert etwa in folgender Art bestimmen. In Fragen der Rechts= und der Geschäftsfähigkeit
war das römische Recht nicht als Grundlage anzusehen. Die Lehre von der Vollmacht fand
im fremden Rechte keine haltbaren Anknüpfungspunkte. Das Körperschafts- und Gesellschafts-
recht hatte germanisches Gepräge. Das Recht der Wertpapiere beruht auf deutschrechtlichen
Gedanken. Im Sachenrechte besaßen die dem deutschen Rechte entlehnten Bestandteile das
Übergewicht. Die römische Besitzlehre war zwar im allgemeinen rezipiert, aber umgestaltet,