180 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
Rechts mehr und mehr die Einheit über dem Gegensatz von neuem erschienen. Das öffent-
liche Recht ist mit der Einkehr der Freiheit in die Ordnung, mit der Ausgestaltung der Gegen-
seitigkeit zwischen dem Ganzen und seinen Gliedern, mit der Zuteilung gliedmäßiger Rechte
neben den Pflichten, mit der Sicherung des Eigenlebens der engeren Verbände und mit der
Einführung des Rechtsschutzes in sein Gebiet wieder zu vollem Recht geworden (Idee des Rechts-
staats). Das Privatrecht aber hat wieder eine sozialere Färbung angenommen. Auch soweit
es Individualrecht ist, geht es zwar von der Freiheit der Menschen als unverbundener Träger
von Einzelbereichen aus, entbindet aber die Einzelbereiche nicht von der Unterordnung unter
die Gemeinschaft, sondern setzt aller Sachherrschaft und aller Vertragsfreiheit feste Schranken
und durchdringt alle Befugnisse mit Pflichten, um gegenüber den Einzelinteressen das Gesamt-
interesse zu wahren. Uberdies aber entfaltet es sich im Familien-, Gesellschafts-- und Ge-
nossenschaftsrecht zu echtem Sozialrecht, so daß bereits im Privatrecht die organische Verbunden-
heit der Menschen in Gemeinschaftsordnungen verschiedener Stufen zum Auedruck kommt.
Da dies alles germanischer Herkunft ist, hat das deutsche Privatrecht gerade diese Züge des gelten-
den Rechts zu enthüllen. Uberdies hat es sich mit Instituten zu beschäftigen, bei denen die ehe-
malige Vermischung von Privatrecht und öffentlichem Recht nachwirkt. Es hat daher zugleich
die Brücke vom Privatrecht zum öffentlichen Recht zu schlagen.
Das deutsche Privatrecht des Mittelalters neigte zur Ausgestaltung besonderer
Rechtsordnungen für jeden Lebenskreis. Es überwand nicht nur nicht den
uralten Gegensatz der Stammesrechte, sondern schritt in wachsender Zersplitterung zu parti-
kulärer Rechtsbildung für einzelne Territorien, Städte und Dörfer fort. Und es spaltete sich
überdies in Sonderrechte für die verschiedenen Stände, Berufe und Sachgattungen (Land-
und Lehnrecht, Dienstrecht, Hofrecht, Weichbildrecht, Fürsten= und Ritterrecht, Handels= und
Gewerberecht, Bergrecht, Deichrecht usw.). Daß in diesem Reichtum das gemeine Recht
nahezu verschwand, war der Grund für die schwere Erkrankung des nationalen Rechts, zu deren
Heilung das fremde Recht herbeigerufen wurde. Doch trieb gegenüber dem neuen gemeinen
Recht, das vorzugsweise römisch war, die deutsche Eigenart immer wieder Partikularrecht und
Sonderrecht hervor. Die endliche Uberwindung des Partikularismus auf nicht mehr
bloß fremdrechtlicher Grundlage gelang erst dem wiedergewonnenen nationalen Staat. Allein
die neue Rechtseinheit läßt auf vielen und gerade auf solchen Gebieten, auf denen das einheimische
Recht den Sieg behauptet hat, für partikuläre Rechtsbildung Raum. Dem Uberwuchern der
Sonderrechte setzte die mit Hilfe des fremden Rechts vollzogene Umwandlung der
ständischen Ordnung in die staatsbürgerliche Ordnung ein Ziel. Allein unser für alle geltendes
bürgerliches Recht schließt kräftige und umfassende Sonderrechtsbildungen für bestimmte
Lebensbereiche (Personen-, Sachen= oder Geschäftskreise) keineswegs aus. Es fordert nur von
ihnen Beschränkung auf die in eigentümlichen Lebensverhältnissen begründeten Besonder-
heiten und harmonische Eingliederung in den Gesamtbau. So bewährt sich auch heute die
Eigenart des deutschen Privatrechts mit Energie in den teils durch die Reichsgesetzgebung kodi-
fizierten, teils der Landesgesetzgebung vorbehaltenen Normenkomplexen, die das gemeine
bürgerliche Recht, das ihnen gegenüber auch schlechthin als das „bürgerliche“ Recht bezeichnet
wird, durch ein mehr oder minder selbständiges Sonderprivatrecht abwandeln oder ergänzen.
Manche unter ihnen, wie das Handelsrecht, Seerecht und Wechselrecht, neuerdings auch das
Gewerberecht, haben sich zu so umfassenden Systemen ausgewachsen, daß sie aus dem Ver-
bande des deutschen Privatrechts, dem sie innerlich angehören und früher auch äußerlich ein-
verleibt waren, ausgeschieden sind. Andere, wie Privatfürstenrecht, Lehnrecht, Recht der
Bauergüter, Wasserrecht, Forst- und Jagdrecht, Bergrecht, fordern nach wie vor im deutschen
Privatrecht Beachtung.
Das deutsche Privatrecht des Mittelalters war ein volkstümliches Recht. Fehlte
es auch nicht an den Anfängen eines von den Schöffen als berufsmäßigen Rechtspflegern aus-
gebildeten Juristenrechts, so war dieses doch nur die Blüte des Volksrechts. Das Sinnliche
und Bildliche herrschte noch vor, die Form der Erscheinung verhüllte noch den inneren Gehalt,
die konkrete Vorstellung überwog noch den abstrakten Begriff. Seiner um vieles vorgeschritte-
neren wissenschaftlichen Durchbildung verdankte das fremde Recht nicht zum kleinsten Teil seinen
Sieg. Nun trat das Juristenrecht die Herrschaft an. Der gelehrte Berufsstand aber, der sich