2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 187
richtet sich zunächst auf die gehörige Verkündigung (wichtig bei älteren Gesetzen und bei Rechts-
verordnungen). Die Prüfung erstreckt sich aber auch auf die gehörige Gesetzesbildung, daher
auf die verfassungsmäßige Mitwirkung der berufenen Organe (z. B. der Volksvertretung), bei
allen Landesgesetzen auf die Zuständigkeit der Einzelstaatsgewalt gegenüber der Reichsgewalt
und bei allen Rechtsverordnungen auf das Vorhandensein der Verordnungskompetenz. Doch
ist in Preußen und einigen anderen Staaten durch positive Verfassungsbestimmung die Prüfung
der Rechtsgültigkeit gehörig verkündigter königlicher Verordnungen den Gerichten entzogen.
Diese Beschränkung fällt auch für den preußischen Richter insoweit weg, als es sich um ein dem
Reichsrecht widersprechendes Landesgesetz handelt. Auch gilt sie nicht in Ansehung der vom Kaiser
verkündigten Reichsverordnungen.
§ 8. Satzungsrecht. Satzung ist Rechtsetzung durch einen Verband, der nicht Staat ist.
Die Befugnis eines dem Staate untergeordneten Verbandes, sich selbst Recht zu setzen, heißt
Satzungsgewalt oder Autonomie.
Die Autonomie ist Rechtsquelle. Sie schafft Rechtssätze, nicht bloß Rechtsverhält-
nisse. Im deutschen Mittelalter flossen freilich, wie objektives und subjektives Recht überhaupt,
so die Rechtsetzung und das Rechtsgeschäft vielfach ineinander, brach sich daher auch die Satzungs-
gewalt in Form von Verträgen und Verfügungen von Todes wegen Bahn. Heute ist beides
begrifflich zu scheiden. Man darf ebensowenig die Autonomie als erweiterte rechtsgeschäftliche
Freiheit wie diese als Privatautonomie deuten.
Die Geschichte des deutschen Rechts zeigt uns bis zur Rezeption eine außerordentliche
Kraft der Autonomie. Grundsätzlich konnte jeder genossenschaftliche oder herrschaftliche Ver-
band sich ein seine Angehörigen verbindendes Recht setzen, wenn er nur nicht in das Recht
eines höheren Verbandes eingriff. Bestätigung diente nur zur Sicherung. Als bloße Satzung
aber galt, da eigentliches Gesetz nur das Reichsgesetz war, auch jedes Land- und Stadtrecht.
Man schrieb daher auch den Landesherrn und Reichsstädten ein bloßes „jus statuta condendi“
zu und nannte alle Partikularrechte „Statuten“ (daher die Ausdrücke „Statutenkollision“ und
„statutarische Portion"). Nach der Rezeption steigerte sich allmählich die Autonomie der
Landesherren und Reichsstädte zur Gesetzgebungsgewalt. Dagegen wurde die Autonomie
der landsässigen Verbände möglichst beschränkt und, soweit sie fortbestand, entweder an staat-
liche Sanktion gebunden oder in rechtsgeschäftliche Verfügung aufgelöst. Im 19. Jahrhundert
gewann die Autonomie mit der Wiederbelebung der Körperschaftsfreiheit neue, wenn auch
bescheidenere Bedeutung.
Subjekt von Satzungsgewalt ist heute jeder vom Recht als selbständiges Ganze an-
erkannte Verband. Auch die privaten Vereine schaffen in ihren Satzungen ein für ihren Kreis
geltendes objektives Recht. Unter den öffentlichen Verbänden üben namentlich die Gemeinden
durch Erlaß von Ortsstatuten Autonomie aus. Bloßes Satzungsrecht ist heute für den Staat
auch das von den Kirchen und ihren Gliedverbänden gesetzte Recht einschließlich der als „Kirchen-
gesetze“ bezeichneten allgemeinen Anordnungen.
Sehr verschieden aber ist der Umfang der Autonomie. Im Zweifel kann jeder Ver-
band sein eigenes Sozialrecht (seine Daseinsordnung und die aus ihr fließenden Beziehungen
der Mitglieder) gestalten, dagegen die Sätze des gemeinen öffentlichen oder Privatrechts für
sich und seine Angehörigen nicht abändern. Doch sind einerseits immer bei öffentlichen und
vielfach auch bei privaten Verbänden der Satzungsgewalt auch hinsichtlich des eigenen Lebens-
bereiches engere Grenzen gezogen. Anderseits sind gewisse Verbände ermächtigt, durch Satzungs-
recht in das gemeine Recht einzugreifen. So können, während die umfassende Satzungsgewalt
der Landstädte auf dem Gebiete des Privatrechts nur in Mecklenburg für Rostock und Wismar
erhalten blieb, auch heute durch Ortsstatut privatrechtliche Bestimmungen im Gewerberecht,
teilweise auch im Gesinderecht, im Wohnungsmietsrecht (hinsichtlich der Ziehzeiten) und im.
Nachbarrecht (ugl. z. B. Württ. AG. a. 224 ff.) getroffen werden.
Eine stark erweiterte Autonomie auf dem Gebiete des Privatrechts besitzen die Familien
des hohen Adels, die seit dem 14. Jahrhundert sich zu korporativ organisierten „Häusern“
zusammenschlossen und sich ein besonderes Privatrecht schufen, um die ihren Bestand bedrohende
Entwicklung des gemeinen Landrechts von sich abzuwehren. Sie behaupteten ihre Autonomie