202 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
die durch besondere, nach Stand und Geschlecht ungleiche Kraftproben dargetan werden mußte.
Insbesondere konnte durch Vergabung vom Siechbett aus auch fahrende Habe den Erben nicht
entfremdet werden. Allmählich aber drang, besonders unter dem Einfluß der Kirche, die
Ansicht durch, daß zur Verfügung der Besitz der Geisteskräfte genüge (kl. Kaiserr. II c. 36).
Heute sind körperliche Gebrechen nur tatsächliche Hindernisse für gewisse Handlungen, für die
daher bei Blinden, Tauben, Stummen usw. besondere Formen zu wahren sind. Solchen.
Personen kann (jedoch, solange eine Verständigung möglich ist, nur mit ihrer Einwilligung)
ein Pfleger bestellt werden, sie erleiden aber dadurch keine Einbuße an Geschäftsfähigkeit.
IV. Geistige Gesundheit. „Rechte Toren“ und Verschwender wurden schon
im Mittelalter entmündigt. Heute sind Geistesgestörte und wegen Geisteskrankheit Entmündigte
geschäftsunfähig, die wegen Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunksucht Entmündigten
in der Geschäftsfähigkeit beschränkt.
Literatur: Gierke, D. P.R. 1 43—45. Weinhold, Die deutschen Frauen im M. A,
1897. Wackernagel, Die Lebensalter, 1862. Hübner #8—10. v. Schwerin l4 ff.
Fehr, Die Rechtsstellung der Frau in den Weistümern (in Festschrift f. Gierke), 1911; die Rechts-
stellung der Frau und der Kinder in den Weistümern, 1912.
§ 22. Einfluß der Standesunterschiede. Im älteren deutschen Recht war die ständische
Gliederung von größter Bedeutung für das Privatrecht. Jeder Stand brachte sein Sonder-
recht hervor. Die Geburtsstände schlossen sich gegeneinander durch die Ausbildung des Prin-
zips der Ebenbürtigkeit ab, demzufolge der Angehörige des niederen Standes für den des
höheren Standes „Ungenosse“ war; der Unebenbürtige entbehrte gegenüber dem „Uber-
genossen“ der vollen Gerichtsfähigkeit, des Erbrechts, der Fähigkeit, Vormund zu sein; nur
die ebenbürtige Ehe erzeugte die volle eheliche Genossenschaft, kraft deren die Frau in das
Recht des Mannes und die Kinder in das Recht des Vaters eintreten; bei ungleichen Ehen
„folgen die Kinder der ärgeren Hand“. In der Entscheidung der Frage, welche Stände ein-
ander ebenbürtig sind, spiegelt sich die Geschichte der Ständebildung wieder. Während ur-
sprünglich alle Freien einander ebenbürtig und alle Unfreien den Freien unebenbürtig waren,
begann seit dem 13. Jahrhundert der Herrenstand sich gegen alle anderen Stände, die Ritter-
schaft gegen die Bauern abzuschließen, ein Teil der Unfreien sich über die Gemeinfreien zu
erheben. Neben dem Geburtsstande bestimmte der Berufsstand das Recht. Allein die Berufs-
stände neigten dazu, im Laufe der Zeit in Geburtsstände überzugehen. Nach der Rezeption
bestanden die alten Stände fort. Von den überkommenen Geburtsständen jedoch wahrte nur der
Herrenstand als „hoher Adel“, indem er sich der Herrschaft des gemeinen Rechts entzog, seine alte
Bedeutung. Die übrigen Geburtsstände (niederer Adel, Bürgerstand, Bauernstand) wurden grund-
sätzlich dem gemeinen Recht unterworfen und behielten nur in einzelnen Punkten ein Sonder-
recht bei. Auch dieses aber, das am Ende des 18. Jahrh. immerhin noch erheblich genug war,
um die Aufnahme eines Ständerechts in das Preußische Landrecht zu ermöglichen, schrumpfte
mehr und mehr zusammen, seitdem die Berufswahl und der Erwerb jeder Art von Grund-
besitz vom Geburtsstande unabhängig gemacht und das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleich-
heit durchgeführt wurde. Neuere Verfassungsurkunden hoben ausdrücklich die „Standesvorrechte“"
auf (Preuß. a. 4). Das BGB. erwähnt den Geburtsstand überhaupt nicht. Dagegen hat der
Berufsstand vielfach privatrechtliche Bedeutung gewahrt oder neu gewonnen.
§# 23. Der hohe Adel. Der hohe Adel ist noch heute ein geschlossener Geburtsstand,
den die Familien der deutschen Landesherren, denen die erst nach 1815 der Landeshoheit ver-
lustig gegangenen Familien gleichgestellt sind, und die Familien der deutschen Standesherren
bilden. Der Kreis der standesherrlichen Familien umfaßt diejenigen Familien, deren Häupter
zur Zeit der Auflösung des alten Reichs Reichsstandschaft besaßen, und ist durch Bundes-
beschlüsse und Landesgesetze festgestellt. Eine Erweiterung kann nicht stattfinden. Die Mit-
gliedschaft in einer dieser Familien wird durch Geburt in ebenbürtiger Ehe (nicht durch Legiti-
mation oder Annahme an Kindes Statt) erlangt.
Für den hohen Adel gilt ein besonderes Privatrecht, das „Privatfürsten-
recht“, dessen Quelle in erster Linie für jede Familie ihr Hausgesetz (oben §& 8) und ihre Haus-
observanz (oben § 9), subsidär aber das als „gemeines Privatfürstenrecht“ bezeichnete Standes-