Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 17 
die Betätigung der Rechtsordnung im subjektiven Rechtsleben betrifft. Dieses Feld ist ein 
unendliches, so unendlich wie die Geschichte des menschlichen Geistes, es ist darum immer nur 
eine Annäherung an das Ideal möglich; nicht nur wegen der ungeheuren Menge des Stoffes, 
sondern auch vor allem, weil uns so außerordentlich viel Material entschwunden ist. Viele 
Völker sind dahingeschieden, ohne Spuren zu hinterlassen; nur von verhältnismäßig wenigen 
Völkern haben wir geschriebene Rechtsdenkmäler, und von den geschriebenen Rechtsdenkmälern 
wieder ist eine große Menge auf immer zugrunde gegangen. Doch schon das Vorhandene ist 
außerordentlich groß, und an uns steht es, allüberall zu retten, was zu retten ist. Noch bieten 
die Naturvölker eine unendliche Fülle von Rechten und Rechtsgebräuchen dar, und es bedarf 
nur der Forscher, um uns darüber klare und umfassende Nachrichten zu geben. Vieles ist in 
dieser Beziehung geschehen; englische, holländische, französische, deutsche Beobachter haben 
Aufzeichnungen hinterlassen; Reisende und Missionare, Kolonialbeamte und Kolonialrichter 
haben ihre Beobachtungen aufgeschrieben, und schließlich ist die einheimische Gerichtsbarkeit 
eine lautere Quelle des dortigen Rechtes. In dieser Beziehung sind heutzutage große Fort- 
schritte zu verzeichnen: die Lust der ethnographischen Forschung ist erwacht. Man hat auch ein- 
gesehen, daß die Kenntnis der Völker ein außerordentliches Hilfsmittel ist, um unsere Herr- 
schaft zu stützen, und daß die vielen Fehler der Kolonialregierungen größtenteils von der Un- 
kenntnis heimischer Anschauungen herrühren. So zeigte es sich, daß die Forschung auch eine 
große Zweckmäßigkeit in sich trägt; und auch schon aus diesem Grunde haben die Kolonial-= 
regierungen diese Bestrebungen zu unterstützen. Wesentlich ist hierbei, daß man den Be- 
obachtern an die Hand geht, sie auf die richtigen Gesichtspunkte hinweist und ihnen darlegt, 
worin die entscheidenden Gedanken in der Erscheinung Flucht zu suchen sind, so daß Wesent- 
liches vom Unwesentlichen geschieden wird. Unumgänglich ist natürlich auch, daß die Forscher 
dem Stoffe mit Liebe entgegentreten und die Rechtsordnungen der Naturvölker, so sehr sie 
auch unseren Anschauungen widersprechen mögen, als Äußerungen der menschlichen Vernunft 
ehren und nicht, wie dies früher geschah, als Läppischkeiten und lächerliche Irrtümer von oben 
herunter behandeln. In dieser Beziehung ist durch die deutsche Kolonialregierung viel ge- 
schehen; schon sind eine Reihe von Berichten aus unseren Kolonien eingelaufen; andere stehen 
noch bevor. 
Aber auch die Kulturländer, welche schriftliche Rechtsdenkmäler hinterlassen haben, bieten 
einen ungeheuren Rechtsstoff, wennschon früher durch die Leichtfertigkeit, Roheit und Unkultur 
so vieles zugrunde gegangen ist. Wir haben z. B. von dem Strafgesetzbuch der Azteken, des 
Königs Netzahualkojotl bedeutsame Reste, und auch sonst sind die Nachrichten der einheimischen 
Azteken, die wir z. B. in Duran und in Sahagun finden, lebendige Zeugnisse des 
Aztekenrechtes. Die babylonischen und assyrischen Rechtsdenkmäler geben uns 
ein so klares Bild von dem Geschäfts- und Rechtsleben jener Zeit, daß wir diese Rechte besser 
kennen lernen als etwa das germanische Recht zur Zeit Karls des Großen; ganz ebenso wie uns 
einige Teile des Mondes besser bekannt sind als manche Teile der Erde. Das altbabylonische 
war zwar schon früher in Einzelheiten bekannt; durch die Auffindung von Hammurapis 
Gesetz sind wir in die Tiefen jenes Rechtes versenkt worden: dieses Gesetz reicht bis in das Jahr 
2250 v. Chr. zurück, und noch künden uns die Urkunden, daß frühere Gesetzgebungen vorher- 
gegangen sind. Unzählig sind die Urkunden aus jener Zeit, zahlreich die Urkunden aus der 
assyrischen und namentlich aus der neubabylonischen Zeit; sie zeigen uns, daß das babylonische 
Recht nicht nur bis in die Tage des Nabonid, sondern bis tief in die persische, ja in die Diadochen= 
zeit bestanden hat 1. 
Die ägyptischen Rechtsurkunden reichen meist nur in die letzte Zeit der einheimischen 
Herrschaft zurück; am zahlreichsten sind sie aus der Zeit der makedonischen Dynastie. Ihre Ent- 
zifferung und innere Durcharbeitung hat begonnen. 
Auch das griechische Recht bietet uns eine Menge von Rechtsdenkmälern; das 
gortynische Stadtrecht aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., die Fülle von Inschriften, die 
1 - hierzu Kohler und Peiser und Kohler und Ungnad, Hammurabis 
Gesetz [—V; Kohler und Peiser, Aus dem babylonischen Rechtsleben I—IV; Kohler 
und Ungnad, Kundert ausgewählte Urkunden. Demnächst erscheint Kohler und Un- 
gnad, Assyrische Rechtsurkunden. Neuerdings hat sich hierüber eine ganze Literatur entwickelt. 
Encyllopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band I. 2 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.