2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 227
jedem gebührt, als eine im Hauptverfahren um das Gut zu entscheidende Vorfrage. Dabei
galten zahlreiche Beweisregeln, die im allgemeinen darauf beruhen, daß ältere Gewere als
sortbestehend angenommen wird, bis ihre Verdrängung durch jüngere Gewere erwiesen ist
(in zweifelhaften Fällen entscheidet Befragung der Umsassen oder Gottesurteil oder wird die
Gewere gleich geteilt). Hauptzweck der Vorentscheidung über die Gewere ist Gewinnung der
richtigen Prozeßlage; zugleich aber kann vorläufige tatsächliche Herstellung oder Wiederherstellung
des der anerkannten Gewere entsprechenden Zustandes verlangt werden.
Literatur: Albrecht, Die Gewere als Grundlage des älteren deutschen Sachenrechts,
1828. Stobbe, Art. „Gewere“ in Ersch und Grubers Encyklopädie. Heusler, Die Gewere,
1872. E. Hub er, Die Bedeutung der Gewere im deutschen Sachenrecht, 1894. Gierke,
D. P. R. II § 113. Hübner § 28, 57. Naendrup, Die Gewere--Therrien (Rechtsschein-
lerichungen 1 1910. H. Meyer, Das Publizitätsprinzip im deut. bürg. R., 19099. v. Schwerin
§ 43. Der Besitz. Mit dem römischen Recht drang die römische Besitzlehre in Deutsch-
land ein. Obschon aber selbst der Name der Gewere verschwand, ging das System der Ge-
were keineswegs unter. Vielmehr war die Lehre von der possessio schon in der italienischen
Doktrin unter Aufnahme germanischer Gedanken umgebildet und erfuhr in Deutschland weitere
Verwandlungen. Im gemeinen Recht siegte dann freilich seit Savign ys berühmter Schrift
über den Besitz in vielen Punkten eine romanistische Gegenströmung. Aber in den Partikular-
rechten hatten sich die deutschrechtlichen Einwirkungen verfestigt. Und das Sachenrecht des BGB.,
in dem das deutsche Publizitätsprinzip zu neuem Leben erweckt ist, läßt sich ohne Wieder-
anknüpfung an die Gewere gar nicht verstehen. Nur setzt im heutigen Recht der Besitz, da sein
Begriff von der possessio abstammt, nicht die ganze, sondern nur die leibliche Gewere fort. Was
von der ideellen Gewere fortlebt, steckt im Grundbuchrecht (unten §& 45).
Der Begriff des Besitzes umfaßt gleich dem der Gewere heute nicht nur den
„Eigenbesitz“, sondern jede tatsächliche Sachherrschaft, die als selbständige Rechtsausübung auf-
tritt. Erkannte schon das Preußische Landrecht jede selbstnützige Inhabung als („unvollständigen")
Besitz an, so stempelt das BG. auch die selbständige Verwaltungsinhabung zu echtem Besitz
und schreibt nur dem unselbständigen Verwalter bloße Detention für den Besitzer zu. Gleich-
zeitig aber sieht das BGB. in der über dem Lehnbesitz (Nutzungs-, Pfand-, Pacht-, Miets-,
Leih-, Verwahrungsbesitz usw.) sich betätigenden Oberherrschaft des Besitzherrn wahren Besitz
(sog. „mittelbaren Besitz“), kennt also gleich dem deutschen Recht mehrfachen Besitz (möglicher-
weise vielfach abgestuften Unter- oder Oberbesitz) an derselben Sache. Im Gegensatz zum
deutschen Recht gilt dies nicht bloß für Liegenschaften, sondern auch für Fahrnis. Dagegen
hat das BG#B. die auf deutschrechtlicher Grundlage im gemeinen Recht und in den großen
Gesetzbüchern vollzogene Ausdehnung des Rechtsbesitzes auf alle sich in dauernder Ausübung
bewährenden Rechte nicht aufgenommen, schränkt vielmehr in Anlehnung an das römische Recht
den Besitzschutz auf den Servitutenbesitz ein.
Seinem Wesen nach ist der heutige Besitz gleich der Gewere ein Rechtsverhältnis. Er
wird durch Rechtshandlungen und in erheblichem Umfange durch Rechtsgeschäfte (Besitzverträge)
erworben und verloren und bildet den Gegenstand einer Rechtsnachfolge. Der Besitz kann
übertragen werden und geht gemäß dem partikularrechtlich bertgebsonsten Prinzip der Ver-
erblichkeit der Gewere von selbst auf den Erben über (BGB. s 85
Unter den Wirkungen des Besitzes entstammt seine *7 für die Ersitzung aus
dem römischen Recht. Daß der Besitz gegen eigenmächtige Entziehung oder Störung Selbst-
hifeschutz und Gerichtsschutz genießt, hat er mit der Gewere wie mit der possessio gemein.
Römischen Ursprungs aber sind die aus den possessorischen Interdikten entwickelten besonderen
Besitzschutzklagen. Allerdings wurden sie durch die Ausgestaltung des possessorium ordinarium
mit seiner Bevorzugung des älteren Besitzes (neben dem das possessorium summarüssimum
zum Schutz des jüngsten ruhigen Besitzes eingeführt wurde) und durch die auf Grund des kano-
nischen Rechts entwickelte Spolienklage, die man auch dem selbstnützigen Detentor gab und
bei jedem unfreiwilligen Besitzverlust zuließ, stark germanistisch umgebildet. Allein wenn in
Partikularrechten und besonders im preußischen Recht die ordentlichen Besitzklagen vollständig
in deutsche Besitzrechtsklagen aus älterem Besitz gegen jeden Schlechterberechtigten umgewandelt
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