2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 257
Abschnitt VIII. Die Näherrechte.
§ 79. Die Näherrechte überhaupt. Näherrecht (ius retractus, Zugrecht, Abtrieb, Losung,
Geltung, Beschüttung, Einstand) ist das Recht, eine Sache für den Fall, daß sie an einen minder
nahe Berechtigten verkauft ist, von jedem Besitzer gegen Ersatz des Kaufschillings an sich zu ziehen.
Derartige Rechte entwickelten sich schon im Mittelalter aus der Abschwächung gesetzlicher
Veräußerungsbeschränkungen, indem der Verkauf gestattet wurde, wenn das Gut vorher dem
Zustimmungsberechtigten gehörig, aber vergeblich zum Kauf angeboten war. Daraus ent-
standen selbständige dingliche Rechte, die nach der Rezeption von der Jurisprudenz fortgebildet
und in den Partikularrechten massenhaft ausgestaltet wurden. Die neuere Gesetzgebung hat
die meisten gesetzlichen Näherrechte um der Freiheit des Eigentums willen beseitigt. Unberührt
davon blieb das gleichfalls schon dem älteren deutschen Recht bekannte gewillkürte Näherrecht
kraft rechtsgeschäftlicher Bestellung.
Das Näherrecht ist seinem Wesen nach ein dingliches Recht. Es gewährt freilich kein
gegenwärtiges, wohl aber ein anwartschaftliches Herrschaftsrecht, indem es eintretendenfalls
ein gegen jedermann wirksames und mit dinglicher Klage verfolgbares Recht auf Ubereignung
gegen bestimmte Gegenleistungen begründet. Nach seiner ursprünglichen, in der neueren Ge-
setzgebung wieder zur Entfaltung gelangten Anlage ist es ein verdinglichtes Vorkaufsrecht, wird
daher nur und sofort durch einen das Vorkaufsrecht verletzenden Verkauf in Wirksamkeit gesetzt;
mithin fällt einerseits seine Ausübung weg, wenn die Sache dem Näherberechtigten gehörig
zum Vorkauf angeboten ist, dieser aber abgelehnt oder sich in einer bestimmten Erklärungs-
frist nicht erklärt hat; andererseits kann es, sobald ein ungehöriger Verkauf zustande gekommen
ist, auch gegenüber dem Verkäufer ausgeübt und durch Rücktritt der Vertragschließenden nicht
mehr vereitelt werden. Doch wurde vielfach das Näherrecht vom Vorkaufsrecht losgerissen.
und namentlich in der gemeinrechtlichen Theorie als selbständiges dingliches Aneignungsrecht
behandelt; man ließ die Ausübungsbefugnis aus jedem Verkaufe entspringen, so daß die Ab-
lehnung des Vorkaufsangebots nur, insofern sie als Verzicht zu deuten war, entgegenstand
und die Erklärungsfrist in die Verjährungsfrist überging; man gab andererseits die Klage nur
gegen den dritten Erwerber nach vollzogenem Eigentumsübergange. Immer muß zwischen
dem Näherrecht im ganzen und dem aus ihm entspringenden einzelnen Anspruch unterschieden
werden; jenes bewirkt bereits eine dingliche Gebundenheit des Eigentums durch Verfügungs-
beschränkung; der durch näherrechtswidrigen Verkauf geweckte konkrete Anspruch beschwert
das Gut mit einer dinglichen Last von bestimmtem Inhalt und geht so, wie er einmal ent-
standen ist, gegen jeden nachfolgenden Eigentümer.
Die Ausübung des Näherrechts findet nur beim Verkaufe (nicht bei sonstiger Ver-
adußerung, Vertauschung, Verschenkung usw.) an einen nicht gleich oder noch näher Berechtigten
(meist überhaupt nicht beim Verkauf an den nächsten Erben, sogen. „Kindskauf") statt. Sie
darf nur in eigenem Namen und für eigene Rechnung erfolgen. Vollzogen wird sie durch
die gehörige Erklärung, das Eigentum gegen die im Kaufvertrage bedungenen Gegenleistungen
(somit gegen Ersatz des gezahlten oder lbemahme des geschuldeten Kaufpreises mit Neben-
kosten) erwerben zu wollen. Der erste Kaufpreis entscheidet auch gegenüber einem späteren
Erwerber, der mehr oder weniger oder nichts gezahlt hat. Die Ausübungsbefugnis erlischt
nach deutschem Recht durch Verschweigung in Jahr und Tag, woraus gemeinrechtlich eine kurz-
fristige Verjährung, partikularrechtlich meist eine (in der Regel noch kürzer bemessene) Aus-
schlußfrist wurde. Unter kollidierenden Näherrechten gilt zum Teil eine feste Rangordnung;
bei gleichem Range entscheidet Prävention oder äußersten Falles das Los.
§ 80. Arten der Näherrechte.
I. Die gesetzlichen Näherrechte zerfallen je nach dem Rechtsgrunde der Ge-
bundenheit des Eigentums in mehrere Gruppen. 1. Im samilienrechtlichen Zu-
sammenhange wurzelt die Erblosung (retractus gentilitius s. ex iure consanguinitatis). Hervor-
gegangen aus der Abschwächung des Erbenwartrechts (oben § 70), wurde die Erlosung sehr
allgemein (vielfach aber nur an Erbgütern) bald den nächsten Erben, bald allen Erben eines
engeren Kreises mit Vorrang der näheren zugestanden. Neuerdings ist sie beseitigt. Ver-
Encyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Nenbearb. 2. Aufl. Band I. 17