2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 265
Im Gegensatz zum älteren deutschen Recht gilt die Sache auch dann als dem Berechtigten
abhanden gekommen, wenn sie seinem Besitzmittler abhanden gekommen ist. Jedoch hindert
unfreiwilliger Besitzverlust nicht den Erwerb von Eigentum oder dinglichem Recht an Geld
oder Inhaberpapieren und nicht den Erwerb bei der Veräußerung im Wege öffentlicher Ver-
steigerung.
Literatur: Budde, De vindicatione rerum mobilium Germanica, 1837. Heusler,
Die Beschränkung der Eigentumsverfolgung um Fahrnis und ihr Motiv im deutsch. R., 1871.
Franken, Gutachten für den XV. deutsch. Juristentag, 1880. Kern, Entwicklung des Grund-
satzes „Hand muß Hand wahren“, 1881. E. Hermann, Die Grundelemente der altgermanischen
Mobiliarvindikation (Unters. H. 20), 1886. London, Die Anefangsklage, 1886. H. Meyer,
Entwerung und Eigentum im deutschen Fahrnisrecht, 1902. Wellspacher, Publizitäts-
gedanke u. Fahrnisklage im Usus modernus, Z. f. d. P. u. ö. R. d. G. XXXI 631 ff. K. Rauch,
Spurfolge und Anefang, 1907. A. Schultze, Gerüfte u. Marktkauf (in Festgabe f. Dahn),
1905; Jahrb. f. D. XIIX 159 ff.; Die Bedeutung des Zuges auf den Gewähren im Anefangs-
verfahren (in Festschrift f. Gierke), 1917. Blunck, Die Anefangsklage, 1912. Gierke,
D. P.R. II § 134. Hübner z 58.
Viertes Buch. Recht der Schuldverhältnisse.
Kapitel I. Allgemeine Lehren.
g 86. Das Wesen der Schuldverhältnisse. Dem deutschen Recht waren von je Rechts-
verhältnisse bekannt, vermöge deren jemand einem anderen eine bestimmte vermögenswerte
Leistung schuldet. In den Volksrechten und den Rechtsbüchern begegnen Schuldverhältnisse
aus unerlaubten Handlungen und aus den einfacheren Verkehrsgeschäften. Doch überwiegen
die ständigen Verbindlichkeiten aus personenrechtlicher Verbindung oder aus sachenrechtlichen
Verhältnissen. Eine tiefgreifende Aus- und Umbildung erfuhr das Recht der Schuldverhältnisse
im städtischen Verkehr. Mit der Rezeption zog in Deutschland das römische Obligationen-
recht ein, das großartigste und zugleich universellste Werk des römischen Rechtsgenius. Allein,
wenn auch der Sieg des fremden Rechts auf diesem Gebiet unvergleichbar vollständiger als auf
anderen Gebieten war, so mußte es sich doch eine Umschmelzung und Ergänzung durch ger-
manische Rechtsgedanken gefallen lassen, die nicht etwa bloß Einzelheiten, sondern Kernfragen
betrifft.
Das deutsche Recht geht aus vom Begriffe der „Schuld“. Schuld ist rechtliches
Sollen. Dem Leistensollen des Schuldners entspricht ein Empfangensollen des Gläubigers,
das ursprünglich gleichfalls „Schuld“, später „Forderung" (was anfangs nur Klage bedeutete)
heißt. Für das Wesen solcher Schuld hat die Beschaffenheit des Gegenstandes der geschuldeten
Leistung bestimmende Bedeutung. Darum berührt zunächst, je nachdem persönliche Tätigkeit
(Arbeit) oder Verschaffung einer Sache (zu Eigentum oder Besitz) geschuldet wird, das Schuld-
verhältnis sich mit dem Personenrecht oder mit dem Sachenrecht. Im ersten Falle kann es
in dem Maße, in dem es die Persönlichkeit selbst ergreift und bindet, personenrechtliche Be-
ziehungen in sich aufnehmen oder entfalten. Dies tritt auch heute vor allem beim Dienst-
vertrage und beim Gesellschaftsvertrage zutage. Im zweiten Falle kann das Schuldverhältnis
als Keim oder Vorstufe des dinglichen Rechts erscheinen. Hierauf beruhte die aus deutsch-
rechtlichen Gedanken von Kanonisten und Feudisten entwickelte, in der älteren gemeinrechtlichen
Doktrin festgehaltene und vom preußischen Landrecht übemommene Lehre von dem durch den
schuldrechtlichen Erwerbstitel begründeten „Recht zur Sache“ (jus ad rem), das bereits ein von
Dritten zu achtendes Verhältnis zur Sache herstellt, und die im Preuß. Landr. folgerichtig
durchgeführte weitere Lehre, nach der jedes Recht zur Sache durch Eintragung oder Besitz in ein
dingliches Recht verwandelt wird und somit auch Miete, Pacht, Leihe usw. der Verdinglichung
fähig sind. Das heutige Recht hat mit dieser Auffassung gebrochen; allein im Gegensatz zum
römischen Recht schlägt auch das BGB. Brücken vom Recht der Schuldverhältnisse zum Sachen-
recht, indem namentlich durch die Eintragung einer Vormerkung ein Forderungsrecht auf