Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 23 
bleiben bestehen, wie z. B. die gegenseitige Hilfe bei gemeinsamen Gefahren, das System der 
außerordentlichen Neuverteilung, wenn die Einzelanordnung des Landes sich als eine ganz 
unzweckmäßige erweist (Verkoppelung, Flurbereinigung); auch die Gemeindelosung, d. h. das 
Recht eines jeden Gemeindegenossen, einen Fremden, der im Gemeindegebiete Land gekauft 
hat, auszukaufen, ist noch ein Rest der alten Vorstellung. Im übrigen entsteht das Familien- 
oder Geschlechtereigentum. 
Das System des Familien= oder Geschlechtereigentums beherrscht weite Völkergebiete: 
Familienkreise von 50—100 und mehr Menschen sitzen auf demselben Kulturland und bebauen 
es gemeinsam, unter der Herrschaft eines männlichen und eines weiblichen Leiters (gospodar, 
domatschika etc.); so die ehemals blühenden Gemeinderschaften der Schweiz, die communautés 
Frankreichs, die zadruga der Serben, die kuca der Montenegriner usw. 1; und der Gedanke 
an dieses Familieneigentum, an diese Hausgemeinschaft lebt im deutschen Rechte noch lange 
fort. Er zeigt sich auch noch in dem mächtigen Einfluß, welchen das Erbgut auf die ganze Ent- 
wicklung ausübt: das Erbgut (bona avita im Gegensatz zur Errungenschaft) ist lange Zeit der 
Familie verfangen und nur beschränkt veräußerlich; es unterliegt der Erblosung, indem der Erb- 
und Familiengenosse ein veräußertes Erbgut gegen Preisersatz an sich ziehen kann, usw. 
Aus dem Familiengut hat sich mit der immer größeren Individualisierung der 
Familie das Einzelvermögen entwickelt. Schon in den Zeiten des Familiengutes gibt 
es, auch abgesehen von den oben erwähnten notwendigen Persönlichkeitssachen, gewisse Stücke, 
die einem einzigen Familienmitgliede vorbehalten sind. Man kann sie in Anlehnung an 
das römische Recht Pekulien nennen. Der Gedanke ist ursprünglich der: das Pekulium 
ist zwar noch kein Sondereigen, aber es soll, wenn man zur Teilung des Gesamtvermögens 
schreitet, dem Pekuliengenossen zum voraus zugewiesen werden. Solches Pekulium war ins- 
besondere all dasjenige, was der Genosse außerhalb des Hauses mit seiner geistigen oder 
körperlichen Arbeit verdiente. 
Eine spätere Entwicklung faßte den Begriff strenger und sagte: der Pekulienberechtigte 
habe ein sofortiges Eigentum an den Pekuliarsachen, und der Gesamtheit stehe nur eine gewisse 
Verwaltung zu. Auf diese Weise mußte sich das Einzelvermögen entwickeln. Das geschah noch 
in anderer Weise: die Nachfolger des Hausvaters blieben in früheren Jahrhunderten zusammen 
sitzen und besaßen das Vermögen als Gesamtgut; zur Teilung gehörte ursprünglich Zustimmung 
aller Genossen. Ein großer Fortschritt war es nun, als man bestimmte, daß jeder Mitberechtigte 
die Teilung verlangen könne. Auf solche Weise kam man zur Auseinanderlegung des Ver- 
mögens, und auf den Erbgang folgte das Einzelvermögen. 
Das Einzelvermögen mit der Veräußerungsmöglichkeit enthält allerdings einen Zwie- 
spalt, der die ganze Folgeentwicklung charakterisiert. Da man dem Einzelnen das Vermögen 
nicht mehr ins Grab gibt, so fällt es nach seinem Tode an seine Erben, und es scheint der Satz 
zu gelten, daß es ihm nur zu Lebzeiten gehört. Trotzdem vermag er die einzelnen Vermögens- 
stücke so zu veräußern, daß sie nicht nur ihm, sondern auch den Erben fremd werden, so daß er 
nicht nur den Genuß, sondern auch das Kapital des Vermögens weggibt und den Erben ent- 
zieht, was an die frühere Einrichtung anklingt, welche ihm das Vermögen ins Jenseits sandte: 
was er veräußert hat, ist gleichsam ein antizipiertes Totenopfer. Daraus haben sich erbrecht- 
liche Einrichtungen entwickelt: Erbvertrag, Testament. 
§ 16. Moderne Ergebnisse. 
Dieses Einzelvermögen zeigt die Vorteile des Individualismus; es dient den Sonder- 
bestrebungen des Einzelwesens und seinen Freuden und Leiden und entfesselt damit die Sonder- 
kraft seines Wesens; es vermannigfacht die menschliche Tätigkeit und fördert neue Kultur- 
erscheinungen zutage; in jedem Falle steigert es die Achtsamkeit und den wirtschaftlichen Sinn: 
1 Auch bei den Nordslawen nachweisbar, vgl. Simkhowitsch S. 8f. So auch die 
consortia in Oberitalien, Fumagalli, diritto di fraterna da Accursio alla codificazione (1912). 
Über das Ganze vgl. Georg Cohn, Zeitschr. f. vergl. Rechtswissenschaft XIII S. 1; Schweizer 
Civilgesetzb. § 336 E
	        
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