Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

24 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 
es ist darum bei allen Völkern eine Quelle ihres Fortschritts, ihrer Kraft und ihrer Kulturstärke 
gewordenV. 
Allerdings hat das Einzelvermögen auch seine schweren Schattenseiten. Will man es 
mit Kraft durchführen, so muß man es als veräußerliches Vermögen gestalten, denn nur der 
freie Verkehr bietet diese Vorteile, und zugleich als vererbliches, denn nur so wird der Persönlich- 
keit eine dauernde Macht verliehen. Mit der Veräußerung und der Vererbung aber ist sofort 
die Ungleichheit unter den Menschen gegeben; die verschiedene Vermögenskraft der einzelnen, 
die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Beanlagung, die Verschiedenheit der Arbeitsenergie, 
die größere oder geringere Geschicklichkeit im Verkehrsleben gibt dem einen Menschen einen 
unbedingten Vorsprung vor dem anderen; der eine wird reich, der andere arm. Jahrhunderte- 
lang hat man sich mit dem Problem befaßt, wie hier abzuhelfen sei, namentlich weil immer von 
Zeit zu Zeit die unteren Klassen durch Krisen heimgesucht und dadurch in schwere wirtschaft- 
liche und politische Mißlichkeiten verstrickt waren, auch immer von Zeit zu Zeit sich gegen die 
hergebrachte Ordnung aufbäumten und empörten 2. Namentlich führt auch das Erbrecht zu 
großen Ungleichheiten, wenn man nicht auf dem morgenländischen Standpunkt verbleibt, bloß 
einen einzelnen Erben anzunehmenz; ist dies nicht der Fall, und hat jemand viel, der andere 
wenig Erben, so kunn ein und derselbe Vermögensbetrag das eine Mal unter zehn, das andere 
Mal unter zwei Erben geteilt werden; das ist eine ersichtliche Quelle der Ungleichheit. 
Nachdem man sich jahrhundertelang dieser Erscheinungen nicht erwehren konnte, 
hat die neuere Zeit versucht, diese Mißlichkeiten des Einzelvermögens mehr oder minder aus- 
zugleichen. Man ging davon aus, die individuellen Kräfte des Eigentums aufrechtzuerhalten, 
ihm aber zu gleicher Zeit das Bestreben einzupflanzen, den sozialen Bedürfnissen zu dienen. 
Der unbedingte, eigensüchtige Einzeltrieb kann uns nicht frommen, und man muß mehr oder 
minder versuchen, auf dem Boden unserer Einzelwirtschaft wieder große Vereinigungsmittel- 
punkte zu schaffen, die dem Ganzen dienen und denjenigen Personen aufhelfen, welche durch 
jene Grundsätze des Einzelvermögens in den Hintergrund gedrängt worden sind 3. So hat 
man heutzutage die planmäßige Unterstützung der Kranken, der wirtschaftlich Schwachen, der 
Verunglückten eingeleitet und auf solche Weise den im Wirtschaftskampfe schwächeren Einzel- 
wesen ein lebenswürdiges Dasein, Kraft und Fortbildungsfähigkeit zu gewähren versucht, und 
auch Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit, genossenschaftliche Organisationen der Arbeit und 
anderes hat man eingerichtet. 
Man tut dies heutzutage von Staats wegen, während frühere Geschlechter solches mehr 
als Familiensache behandelten: der Staat wird herangezogen, um durch soziale Tätigkeit da 
auszugleichen, wo die Wirtschaftsordnung zu Ungleichheiten geführt hat. 
Noch andere Umstände kommen hierbei in Betracht, welche den Nachteil der Ungleichheit 
zu mildern bestimmt sind; vor allem die Ehrfurcht vor der Arbeit, die jedem tüchtigen Arbeiter 
an sich eine geachtete Stellung gibt, und, damit verbunden, das Recht an der Idee. Unser Recht 
gewährt dem Ideenfinder Urheber- und Erfinderrechte und diese bieten dem Begabten, wenn 
auch vermögenslosen, die Kraft, ungemessene Vermögensmassen zu erwerben und eine voll- 
ständige Umwälzung herbeizuführen; er kann die Industrie sich dienstbar machen, und die, 
  
Lehrbuch der Rechtsphilosophie S. 84 f. Die Vorteile des Einzeleigentums sind schon 
von Aristoteles, Politik II 2, in mustergültiger Weise entwickelt worden. Bgl. auch Tho- 
mas von Aquin, Summa theol. 2. 2 qu. 66. a. 2: quia magis sollicitus est unusquisque ad 
procurandum aliquid, quod sibi soli competit, quam id quod est commune omnium vel multorum; 
duia unusquisque laborem fugiens relinquit alteri id quod pertinet ad commune, sicut accidit in 
multitudine ministrorum; alio modo quia ordinatius res humanae tractantur, si ingulis immineat 
Propria cura alicujus rei procurandae: esset autem confusio, si quilibet indistincte quaelibot 
procuraret; tertio, quis per hoc magis pacificus status hominum conservatur, dum unusquis- 
due re sua contentus est; unde videmus, quod inter eos, qui communiter et ex indiviso aliquid 
possident, frequentius jurgia oriuntur. #al. hierzu auch S chaub, Eigentumslehre nach Thomas 
von Aquin S. 266 f. 
* Uber die verschiedenen Agrarrevolutionen vgl. Einführung in die Rechtswissensch. S. 152. 
* Einer der Ersten, die diese Ideen angeregt haben, war der jetzt vergessene Philosoph 
Franz von Baaders; vgl. Reichel, Sozietätsphilosophie F. v. B.s S. 56 f. (Separatabdr. 
aus Z. f. gesamte Staatswissensch. 57 Heft 2).
	        
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