2. O. v. Gierke, Grundzüge des deutschen Privatrechts. 277
fernung auf beiden Seiten aber eine Verwandtschaft nach ungleichen Graden (bei der es im
Erbrecht auf die Stellung des Erben, bei Ehehindernissen auf die längere Reihe ankommt)
vorliegt. Diese Berechnungsart ging in das kanonische Recht über, wurde aber im allgemeinen
durch die römische Gradzählung nach der Zahl der vermittelnden Zeugungen verdrängt und ist
nur für das Erbrecht bedeutungsvoll geblieben. Mit der Schichtung nach Parentelen kreuzt
sich die Scheidung eines engeren (meist Nachkommen, Eltern und Geschwister, mitunter auch
Elterngeschwister umfassenden) und eines weiteren Verwandtenkreises („Busen“ und „Magen“).
Die Sippe endete in einem bestimmten (meist siebenten) Gliede. — Neben der Verwandtschaft
gewann früh auch die Schwägerschaft rechtliche Bedeutung.
Literatur: Kraut, Die Vormundschaft nach den Grundsätzen des deutschen chue,
1835/59. Rosin, Der Begriff der Schwertmagen, 1877. U. Stutz, Das Verwandts
bild des Sachsenspiegels (Unters. H. 34), 1890. Die unten zu # 119 angeführten Schriften.
Hübner s 90. v. Schwerin S. 80 ff.
§ 99. Rechtsverhältnisse des Familienrechts. Als Rechtsverhältnisse familienrechtlicher
Art gelten heute die Ehe nebst dem sie vorbereitenden Verlöbnis, die Verwandtschaft nebst
der Schwägerschaft und die Vormundschaft. Ihr gemeinsames rechtliches Wesen beruht darin, daß
sie eine personenrechtliche Verbundenheit setzen und mit Rechtswirkungen ausstatten. Sie
sind daher in ihrem Kern personenrechtliche Verhältnisse, die gegenseitige Rechte an der Person
mit entsprechenden Pflichten begründen. Doch erzeugen sie zugleich vermögensrechtliche Be-
ziehungen (Familiengüterrecht), die sich aus sachenrechtlichen und schuldrechtlichen Bestand-
teilen zusammensetzen, aber als Ausflüsse eines umfassenden und im Kern personenrechtlichen
Gesamtverhältnisses eigenartig gefärbt und von den Vermögensbeziehungen des Verkehrs-
rechts unterschieden bleiben. Die Familienrechtsverhältnisse sind privatrechtlicher, aber nicht
individualrechtlicher, sondern sozialrechtlicher Natur. Denn sie knüpfen an die im Gattungs-
leben der Menschen gegebenen organischen Gemeinschaften an, die den einzelnen dauernden
Lebenszusammenhängen einordnen. Daraus erklärt sich eine Fülle von Besonderheiten der
Familienrechte, wie ihre Durchmischung mit Pflichten, ihre Unverzichtbarkeit, ihre Unlber-
tragbarkeit, ihre Einschränkung durch Verbot des Mißbrauchs und ihre Verwirkbarkeit; Be-
sonderheiten, die großenteils sich auch auf die vermögensrechtlichen Ausflüsse erstrecken. Darauf
beruhen ferner die Besonderheiten des Rechtsschutzes der Familienrechte, wie die eigenartigen
Formen des Zivilprozesses in Ehesachen und Streitigkeiten über eheliche Kindschaft und elter-
liche Gewalt, die vielfach unter Ausschluß des Rechtsweges stattfindende verwaltungsgerichtliche
Entscheidung durch das Vormundschaftsgericht und die völlige Versagung des Rechtszwanges
für manche Verhältnisse. Daraus entspringt endlich eine starke Einwirkung des öffentlichen
Rechts, die sich vor allem in der staatlichen Obervormundschaft äußert. Hervorgegangen aus
der als „Munt" aufgefaßten Schutzgewalt des germanischen Königs, ist die Obervormundschaft
heute eine vom Vormundschaftsgericht ausgeübte staatliche Schutzgewalt, die nicht bloßlüber
der Vormundschaft steht, sondern auch in das Eltern- und Kinderrecht und in das Eherecht ein-
greift und somit das gesamte Familienrecht durchdringt.
Kapitel II. Das Eherecht.
§ 100. Singehung und Endigung der Ehe. Seitdem die Kirche das persönliche Ehe-
recht auf Grund der Lehre von der Sakramentsnatur der Ehe in Besitz genommen hatte,
wurden für Eingehung und Endigung der Ehe statt der einstigen volksrechtlichen Sätze die
Vorschriften des kanonischen Rechts maßgebend. Auch nach der Rezeption behauptete das kirch-
liche Recht die Herrschaft; neben das katholische Eherecht trat aber nunmehr ein besonderes
protestantisches Eherecht (für Juden das mosaische Recht). Erst die neueren Gesetzbücher (zuerst
das Preuß. ALR.) schufen ein vom Religionsbekenntnis unabhängiges bürgerliches Eherecht,
das aber stofflich an das kanonische Recht oder das aus ihm entwickelte neuere katholische oder
protestantische Recht anknüpft. Auch die Vorschriften des BGB. über die Erfordernisse der
Eheschließung und die Ehehindernisse, über Nichtigkeit und Anfechtbarkeit der Ehe und über
die neben der Auflösung durch den Tod mögliche Auflösung der Ehe durch Ehescheidung be-
ruhen auf den vom kirchlichen Recht geschaffenen Grundlagen. In vielen Punkten indes hat