326 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
Glauben gefunden haben sollte. Wir halten demnach an der Entstehung der zwölf Tafeln im
5. Jahrhundert fest, und auch ihre Abfassung durch eine Zehnmännerkommission ist innerlich
nicht unwahrscheinlich und äußerlich hinreichend beglaubigt.
Über den Inhalt der zwölf Tafeln ist nicht mit voller Sicherheit zu urteilen, weil wir
nicht übersehen können, wieviel davon uns verloren gegangen ist. Indessen ist es gewiß rheto-
rische Ubertreibung, wenn Livius (III 37) sie fons omnis publici privatique iuris nennt. Ihrem
Zweck entsprechend enthalten sie vor allen Dingen Normen für das Zivilverfahren 1. Über
das Strafverfahren wissen wir wenigstens, daß die quaestores paricicti erwähnt wurden, und
kennen die beiden weittragenden Sätze: es soll nicht in Form eines Sondergesetzes gegen
eine Einzelperson vorgegangen werden (privilegia ne inroganto), und ausschließlich der
comitiatus maximus (s. oben § 13 a. E.) soll über Leben und Tod des römischen Bürgers
richten (9, 1 u. 2). Die wesentlichen Sätze des Privat= und Strafrechts waren natürlich in
den Tafeln aufgestellt. Indessen finden sich sehr alte Sätze, die nicht auf die XII Tafeln
zurückgeführt werden. So die Formen des negotium per aes et libram (sie verdanken ihre
verbindliche Kraft ohne Zweifel dem Gewohnheitsrecht), so die pignoris capio wegen des
aes equestre und hordearium, bie moribus rei militaris aufgekommen ist (Gaius IV 27). Schwer-
lich ist das Verfassungs- und Verwaltungsrecht durch die XII Tafeln festgelegt; sonst hätte sich
nach dem Sturze der Dezemvirn die alte Ordnung der Dinge nicht so leicht wiederherstellen
lassen. Außer einer Reihe von polizeilichen und sakralen Satzungen, welch letztere vielleicht
erst nachträglich dem Gesetz eingefügt worden sein mögen, ist uns denn auch nichts von Staats-
recht aus den XII Tafeln überliefert.
Die Quelle für den Inhalt war überwiegend das längst in der römischen Gewohnheit
lebende Recht. Nur wurde es in allen Punkten genauer formuliert und gestaltet, und dazu
kamen mannigfache Anderungen und Zusätze aus Zweckmäßigkeitsgründen und politischen
Rücksichten. Es war eigentliche Kodifikation, nicht bloße Inkorporation. Daß einzelnes auf
griechisches Recht zurückgeht, darf man, wie schon bemerkt, nicht bezweifeln. Aber aus den
auf uns gekommenen Bruchstücken kann man einen weitgehenden Einfluß nicht erweisen; nur
Weniges und Unbedeutendes läßt sich auf attische Vorbilder zurückführen, und auch das nicht
überall mit Sicherheit (7, 2; 8, 27; die Regelung des Begräbnisaufwandes 10, 2 f.). Wenn
also die Römer mitunter die solonischen Gesetze als Hauptquelle bezeichnen (Aurel. Vict. 21),
so ist dies entschieden falsch. Recht und Prozeß sind wesentlich römisch. Anderungen am
bisherigen Rechte sind überhaupt wohl im Privatrechte nur wenig und mehr nur im Pro-
zesse und Strafrechte vorgekommen.
Die Form ist eigentümlich. Eine Reihe absoluter Gebote oder Verbote oder kategorischer
Rechtssätze, alles im einfachen Imperativ, mit lapidarischer und eindrucksvoller Kürze; die
Detaillierung merkwürdig verschieden: einzelnes, was die politischen und sozialen Interessen
der Zeit unmittelbar berührte, wie Prozeß, Exekution und Schuldhaft, mit peinlicher Ge-
nauigkeit, anderes, auf die Dauer nicht minder Wichtiges, wie Verträge und Testamente, nur
in allgemeinen Sätzen. Charakteristisch ist einmal die ängstliche Vorsicht in der Wortfassung,
namentlich um bei den Imperativen das Müssen und Dürfen zu trennen 2; auf der anderen
Seite der häufige unbefangene Wechsel des Subjektes im selben Satze s.
Wert und Bedeutung des ganzen Gesetzwerkes sind sehr hoch zu stellen, sowohl wegen
des echt juristischen und praktischen Charakters seiner Bestimmungen als wegen der Schärfe
und Klarheit der Gedanken und des Ausdrucks. Das juristische Talent der Römer tritt schon
hier sehr scharf hervor; keine Gesetzgebung ähnlicher Kulturstufe kann sich in dieser Beziehung
1 Einschließlich des Kalenders? So, Mommsen folgend, die herrschende Meinung.
Dagegen Lenel, a. a. O. S. 504 ff. An der dort verteidigten Auffassung der Tradition glaube
ich trotz Pais' Gegenbemerkungen (Studi storici II p. 34 ff.) festhalten zu müssen.
„ B3. B. — vincito compedibus XV pondo, ne maiore, aut si volet minore vincito. —
libras farris endo dies dato, aut si volet plus dato. Am merkwürdigsten ist das berühmte:
partis secanto, si plus minusve secherint, se fraude esto.
„ si in ius vocat, ito; ni it, antestamino; ni indicatum facit, secum ducito; ni sam
(viam) delapidassint, qua volet iumento agito.