3. Bruns-Leuel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 327
Auf uns gekommen sind die XII Tafeln leider nur sehr fragmentarisch. Die ursprüng-
lichen Tafeln sind, angeblich bei dem gallischen Brande, zugrunde gegangen, und allem An-
schein nach hat niemals eine Erneuerung stattgefunden. Eine literarische lberlieferung des
Textes fand aber jedenfalls statt; denn bis ins letzte vorchristliche Jahrhundert wurden sie in
den Schulen auswendig gelernt (Cicero, de leg. II 4, 9). Dabei wird der Wortlaut allmählich
der neueren Sprache angenähert worden sein. So bildeten sie in der Tripertita des S. Aelius
Catus den ersten Teil (§ 29). Unter Augustus schrieb Labeo, noch unter Antoninus Pius Gaius
einen Kommentar dazu!½ (in sechs Büchern). Allein der heutigen Zeit ist von allem dem weiter
nichts überliefert als eine Reihe von einzelnen Anführungen, Inhaltsangaben und Anspielungen
bei juristischen und nicht-juristischen Schriftstellern, aus denen sich immer nur ein sehr un-
vollkommenes Bild des Ganzen wieder zusammensetzen läßt 2.
Völlig aussichtslos ist es, die Anordnung oder das „System“ der XII Tafeln wiederher-
zustellen. Man darf nach einer Außerung Ciceros (de leg. II 4, 9) annehmen, daß die ersten
Worte des Gesetzes sich auf die Einleitung des Zivilverfahrens bezogen („si in ius vocat ito"),
und daraus schließen, daß am Anfange der Zivilprozeß geregelt wurde. Dazu würde
es passen, wenn vom morbus sonticus als Grund für das Nichterscheinen vor Gericht auf
der zweiten Tafel die Rede war (Festus v. reus p. 273) 3. Außerdem kennen wir noch von
einigen einzelnen Sätzen den Platz. Wir wissen weiter, daß das testamentarische Erbrecht dem
gesetzlichen vorging (O. 38, 6, 1 pr.). Aus alledem aber läßt sich nicht viel ableiten. Die
durch Gothofred aufgekommene, seit Dirksen übliche Ordnung der Bruchstücke ist diese: 1. und
2. Zivilverfahren; 3. Verfahren gegen den zahlungsunfähigen Schuldner; 4. väterliche Ge-
walt; 5. und 6. Vormundschaft, Erbrecht, Eigentum; 7. und 8. obligatorische Rechtsverhält-
nisse; 9. und 10. us publicum und sacrum; 11. und 12. Nachträge. Diese Ordnung beruht
auf dem Gedanken, daß des Gaius Kommentar zu den XII Tafeln in 6 Büchern in je einem
Buche den Inhalt zweier Tafeln abgehandelt habe. Damit ist 1. stillschweigend vorausgesetzt,
daß jede Tafel einen sachlichen Abschnitt bildete. Dies widerspricht dem Gebrauche der römi-
schen Gesetze späterer Zeit durchaus: man schrieb über die Tafeln ohne Unterbrechung weg.
Warum man die Gesetze nicht trotzdem nach der Tafel hätte anführen und auffinden können,
ist nicht abzusehen. Aber 2. die Gleichung von einem Buche Kommentar mit zwei Tafeln
führt zu unlöslichen Schwierigkeiten: Gaius bespricht im 1. Buch den Begriff von telum, das
entweder zum Diebstahle (8, 13) oder zum Totschlag (8, 24) gehört; er erörtert neben den
prozessualischen auch andere, mit dem Diebstahle im Zusammenhange stehende Fragen (D. 50,
16, 233; 47, 7, 2 und 4)". Ebenso Labeo im 2. Buch seines Kommentars (Gellius VI 15 F1).
Maxn sucht das auf eine gelegentliche Erwähnung zu beziehen. Gaius spricht ferner über Ehe-
scheidung im 3. Buche (D. 48, 5, 44); davon müßte also auf Tafel 5 zu lesen sein (4, 3). Da-
mit wäre aber die enge Verbindung von Vormundschaft und Erbrecht gestört, die ohnehin höchst
zweifelhafter Natur ist. Man wird gut tun, sich überhaupt von dem Gedanken freizumachen,
daß die Dezemvirn bei der Anordnung ihrer Vorschriften von systematischen Gesichtspunkten
ausgegangen seien, die uns Modernen naheliegen. Die Analogie anderer alter Gesetzgebungen
ähnlicher Kulturstufe führt eher zu der entgegengesetzten Vermutung 6.
IIII. Das ius eivile und das ius gentium.
§s 16. Die weitere Rechtsbildung im Verlaufe der Republik nimmt bei der
allmählichen Entwicklung des ganzen römischen Lebens eine mannigfach-bunte Gestalt an.
Es ist nicht eine einförmige Fortbildung durch neue Gesetze, sondern jedes treibende
1 Die Annahme eines historisch-philologischen Kommentars von M. Messalla (cos. 53 v. Chr.)
beruht lediglich auf völlig unsicherer Ergänzung der Festusglossen p. 253. 321. Über einen Kom-
mentar des L. Aelius Stilo f. Schoell, Legis XII tabularum reliquiae. 1866. p. 26 sq.
* D 1 n, Ubersicht der Versuche zur Herstellung der XII Tafel-Fragmente. 1824.
Schoell, 1#6 XII tabul. reliq. 1866. Bruns, Fontes I p. 15—10. M. Boigt, Die
XII Tafeln. 2 Bde. 1883. Nikol * — y Silem u. Text des Zwölftafelgesetzes ceuffecht. 1897.
* Vgl. aber hierzu Schoell, 68.
Bgl. hierzu Lenel, Palin zal 1 eb. 243 n. 4.
* Vol. Lenel, in der Strafb. Festgabe f. Ihering (1892) S. 4 ff.