30 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
Jahrhundertelang lange nach Schwinden der Kaufehe leidet die Frau unter der Ob-
macht ihrer Familie, und die Heirat gegen den Willen dieser ist der Frau entweder nicht ge-
stattet oder wird ihr schwer zum Vorwurf gemacht.
Erst die neuere Zeit hat die Frau auch hiervon befreit und damit für das Einzelwesen
einen neuen Boden der Betätigung geschaffen. Damit ist zugleich eine Fülle individueller
Leidenschaft und eine Betätigung individueller Wahlentscheidung mit allen damit zusammen-
hängenden Leiden und Freuden gegeben, welche die Eigenart des neuzeitlichen Lebens bildet.
Mit der Freiheit der Wahl gewinnt die Wahl auch einen ganz anderen Charakter; es sind per-
sönliche, in den Tiefen des Geschlechtslebens ruhende Triebe, die zum Ausdruck gelangen, eine
Quelle individueller Freude und eine Quelle individueller Tragik, jedenfalls aber mit der Möclich-
keit eines reichen Lebensinhaltes, der den früheren Zeiten versagt ist.
§ 22. Verschämte Ehe.
Die Entwicklung der Einzelehe vollzieht sich als Abweichung vom bisherigen Recht, sie
ist gewissermaßen ein Raub, den der Einzelne gegenüber der Allgemeinheit begeht. Daher
eine Reihe von Erscheinungen, die ich unter dem Namen der verschämten Ehe zusammenfasse.
Die Ehe wird im stillen abgeschlossen, oder wenn sie öffentlich erfolgt, so dürfen die Brautleute
bei der Feierlichkeit nicht anwesend sein, sie schleichen sich vorbei. Hieraus geht die Schwieger-
schen herwor: die Ehegatten scheuen sich vor den Schwiegereltern, der Verkehr ist untersagt,
eine abergläubische Zurückhaltung trennt beide Generationen. Ahnliche Züge treffen wir in
allen Landen; sie zeigen, wie überall die Einzelehe als etwas Nachträgliches, Ungewohntes,
früher Unrechtmäßiges gilt 1. Auf dem gleichen Gedanken beruhen die sogenannten Tobias-
nächte: erst nach Ablauf einiger Zeit darf das eheliche Leben begonnen werden, es litte sonst
unter dem Einfluß tückischer Geister; wir finden diese Einrichtung auf der ganzen Erde, wir finden
sie selbst bei den Azteken, wo der eheliche Umgang erst nach acht Tagen vor sich gehen durfte.
§ 3. Ausgestaltung des Vaterrechts.
Das Vaterrecht entwickelt sich zunächst als Herrschaftsrecht: der Ehemann ist Herr der
Frau und damit Herr ihrer Frucht. Daher bildet sich bei den meisten Kulturvölkern ein Stand
des Familienrechts, bei dem es nicht darauf ankommt, von wem das Kind gezeugt ist, sondern
nur, daß es der Ehefrau angehört und damit ihrem Ehemann. Dies hat in jener Zeit um so
größere Bedeutung, als die Arbeitskräfte gesucht sind und ein jeder Familienzuwachs das
Vermögen um eine Arbeitskraft bereichert. Daher auch die merkwürdige Einrichtung bei indo-
germanischen wie semitischen Völkern, daß, wenn die Ehe kinderlos bleibt, die Frau sich mit
einem anderen Manne, meist einem Bruder oder Verwandten des ersten, verbinden muß, um
der Familie ein Kind zu zeugen. So namentlich auch, wenn der Mann kinderlos stirbt. Es
ist das ein Rechtsstand, den man nach dem hebräischen Brauch das Leviratsrecht nennt. Im
indischen Recht war er besonders ausgeprägt: er bildete das Institut des Niyoga; und der
auf solche Weise gezeugte Sohn hieß Kshetraja: er stand in der Familie dem Aurasa,
dem legitimen Sohne, gleich. Dieses Institut wurde später mißliebig, es verschwand, als ihm
durch das Mittel der Kindesannahme ein leichterer Ersatz geschaffen wurde 2.
Auf demselben Prinzip beruhte es, daß im indogermanischen Rechte das Kind, mit dem
die Frau schwanger in die Ehe trat, als das Kind des Ehemannes galt, ohne Rücksicht darauf,
von wem es herrührte. Dieses Kind ist nach indischem Rechte der Sahodha, der Mitgebrachte.
Und ebenso das Kind, das die Frau als bereits geborenes in die Ehe brachte, der Jungfern-
sohn, Känina. Aber auch der Ehebruchssohn, der heimlich Geborene, war ursprünglich ein
vollbürtiges Mitglied der Familie, daher der bekannte Satz: pater est, guem nuptiae demon-
strant. Erst allmählich tritt in dieser Beziehung ein Umschwung ein. Die Ehebruchskinder
werden immer mehr zurückgedrängt, weil man annimmt, daß der Makel der Erzeugung ihnen
Zeitschr. f. vergl. Rechtsw. XIV S. 341 f. und sonst.
: Es findet sich im griechischen und germanischen Recht, auch in Armenien, Klidschian
in Zeitschr. f. vergl. Rechtsw. XXV S. 236, auch sonst.