Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

340 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
Bei jener vorbereitenden Tätigkeit nun aber genossen die römischen Magistrate eine Freiheit 
des Ermessens, die weit über das hinausging, was wir unseren Gerichten einzuräumen gewohnt 
sind. Diese souveräne Stellung ist nicht etwa, wie manche 1 annehmen, das Ergebnis einer 
spätrepublikanischen Entwicklung. Man muß sich klar machen, daß die jurisdiktionellen Funk- 
tionen der Magistratur in Rom älter sind als alle Gesetzgebung. In der Zeit der Herrschaft 
eines vielfach unsicheren und höchst unvollständigen Gewohnheitsrechtes mußte den von den 
Gutachten der pontikices unterstützten Magistraten bei der Handhabung des Rechts notwendig 
eine bedeutsame selbständige Rolle zufallen. Und auch als in Rom die Zeit der Gesetzgebung 
angebrochen war, blieb der Charakter dieser Gesetzgebung doch weit entfernt von dem unserer 
heutigen Gesetzbücher. Sie beschränkte sich, dem Bedürfnis folgend, auf die höchst positive 
Ordnung gewisser Rechtsmaterien; eine erschöpfende Regelung des gesamten Rechtsverkehrs 
hat sie sich niemals zum Ziel gesetzt, und ganz entzogen blieb ihr, wie wir sahen (§ 18), das 
Gebiet des Fremdenrechts. So blieb ein unterstützendes, ergänzendes, korrigierendes Ein- 
greifen der Magistrate auch in der Periode der Gesetzgebung unentbehrlich: sie waren, mochten 
sie auch auf die Einhaltung und Ausführung der Gesetze verpflichtet und beeidigt werden, doch 
niemals die bloßen Vollstrecker der Gesetze, sind vielmehr nach der römischen Auffassung ganz 
allgemein dazu berufen, dem einzelnen Fall das Recht zu weisen, auf dessen Grundlage er Er- 
ledigung finden soll (iurisdictio). Die Mittel dazu gewährt ihnen ihr imperium, kraft dessen 
sie imstande waren, jede Maßregel und Verfügung anzuordnen und durchzusetzen, die ihnen 
passend erschien, sofern sie nur nicht durch Interzession eines anderen gleich oder höher stehenden 
Beamten oder eines Tribunen daran verhindert wurden. Eine Anklage beim Volke war zwar 
möglich, aber doch immer erst nach Beendigung ihres Amtes. 
Auf dieser Grundlage erwuchs das honorarische, insbesondere das prätorische Recht. Man 
hat geglaubt, seine Entwicklung in Zusammenhang bringen zu sollen mit der gesetzlichen An- 
erkennung des Formularprozesses, der lex Aebutia, deren Zeitalter wir freilich nicht bestimmen 
können?; sie ermächtigte den Prätor, auf Antrag der Parteien auch in Bürgerprozessen statt der 
legis actio eine mit den Prozeßführenden vereinbarte schriftliche Anweisung (kormula) zu er- 
teilen, worin der Geschworene ernannt und ihm vorgeschrieben wird, unter welchen Bedingungen 
er zu verurteilen oder abzuweisen hat (si paret condemnato; s. n. p. absolvito). Richtig ist, 
daß diese kormulae, biegsames Wachs in der Hand des Prätors, ihm für die Durchsetzung seiner 
Absichten eine bequemere Handhabe boten als die starren legis actiones. Allein nicht nur ist der 
Formularprozeß höchst wahrscheinlich weit älter als seine gesetzliche Anerkennung 3 — die An- 
fänge des jus honorarium sind ohne Zweifel so alt wie die jurisdictio der römischen Magistrate 
selbst. Daß wir über diese ganze Entwicklung so wenig wissen, kann bei dem späten Datum 
der römischen Uberlieferung nicht wundernehmen. Aber so weit wie diese zurückreicht, reichen 
doch auch die Zeugnisse für den Bestand eines prätorischen Rechtes. Deutliche Spuren davon 
(die sponsio praeiudicialis) finden sich schon in den Lustspielen des Plautus, so sehr diese auch 
im ganzen mehr griechische als römische Zustände widerspiegeln; und aus dem 2. Jahrhundert 
v. Chr. besitzen wir inschriftlich Senatsbeschlüsse (der älteste datiert wohl schon bald nach 190), 
worin für die Entscheidung völkerrechtlicher Streitfälle Anweisungen erteilt werden, die sich 
unverkennbar an prätorische Prozeßformeln (Interdikte und actio iniuriarum) anlehnen, also 
die Existenz eines prätorischen Rechtes voraussetzen . Das freilich wird zuzugeben sein, daß 
ein großer Teil des ius honorarium erst in der Zeit des Weltverkehrs entstanden sein wird, der 
sich seit den Punischen Kriegen machtvoll entwickelte und in der Rechtspflege Bedürfnisse schuf, 
die der schwerfällige Gesetzgebungsapparat nicht zu befriedigen vermochte. Wo das praktische 
Bedürfnis des Lebens, die veränderten Verhältnisse, die freieren Rechtsanschauungen es fordern 
oder es als passend und volkstümlich erscheinen lassen, schreiten die Magistrate mit neuen An- 
ordnungen und Verfügungen ein. Sie stellen neue Klagerechte auf, lassen Einreden zu, er- 
teilen Restitutionen, ordnen den Erbschaftsbesitz usw. Gar manches haben sie dabei dem griechischen 
1 Insbesondere Girard, zuletzt in der 8RG. XIII S. 127 ff. 
: Girard, 8&G. XXVII S. 11 ff., XIII S. 113 ff., setzt sie — aus m. E. unzureichenden 
Gründen — in die Zeit zwischen 149 und 126 v. Chr. 
2 BVgl. Wlassak, Röm. Prozeßgesetze 1 S. 63 ff., 75, 159 ff., II S. 301 ff. 
* Val. Partsch, Die Schriftformel im röm. Provinzialprozeß (1905) S. 1—52.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.