Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

346 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts. 
auf die einzelnen, konkreten und verwickelteren Fälle des Lebens mehr ins einzelne und feinere 
Detail entwickelt und zu ihren tieferen Konsequenzen weitergeführt werden. Dazu mußten 
die Prinzipien selbst schärfer bestimmt und abgegrenzt, in ihrer Beziehung und ihrem Gegen- 
satze zu anderen festgestellt und in ihrer organischen Verbindung zu einem Ganzen abgerundet 
werden. Dies auszuführen war natürlich nicht Sache der Gesetzgebung, sondern eine Aufgabe, 
die nur in stetem Kampfe der Meinungen und unter den Erfahrungen des täglichen Lebens 
von der Wissenschaft und Praxis in entsprechender Weise gelöst werden konnte. Demgemäß 
nimmt in der Kaiserzeit im Anfange zunächst die Rechtswissenschaft die Hauptstelle in der ganzen 
Rechtsbildung ein, daneben die von ihr beeinflußte Praxis, namentlich in den Entscheidungen 
der kaiserlichen Justiz. 
2. Zugleich erhält das Recht einen universaleren Charakter. Im römischen Weltreiche 
sind die verschiedensten Nationen verbunden. Allmählich werden auch die Provinzen aus be- 
herrschten Gebieten selbständige Glieder des Staates, und der Unterschied der Bürger und 
Peregrinen gleicht sich aus: auf dem Kaiserthrone folgten den Altrömern (Julier, Claudier) 
erst Italiker (Flavier), dann Provinzialen (Alier). In den Senat traten auch Provinzialen 
immer zahlreicher ein. Der Einfluß der Provinzen wächst, obgleich Italien immer noch rechtlich 
das herrschende Land bleibt. Die Rechtsordnung streift unter dieser Einrichtung mehr und 
mehr die nationalen Besonderheiten ab und wird bis zu einem gewissen Grade fähig, sich ein- 
heitlich auf das ganze Weltreich auszudehnen und so ein starkes Bindemittel für die auseinander- 
strebenden Reichsteile zu werden 7. 
8 32. Die Untertanen. Seit dem Beginne der Kaiserherrschaft vollzieht sich die 
Ausbreitung des Bürgerrechts oder doch der Latinität auf die Provinzen langsam, aber sicher; 
seit Cäsar wird die Zivität bald an Einzelne, bald an Gemeinden verliehen, so daß am Ende des 
zweiten Jahrhunderts mindestens die westliche Hälfte des Reiches (Sizilien, Gallien, Spanien) 
ein Gemenge von Bürgern, Latinern und Peregrinen erfüllt. Erklärlicherweise erneuern sich 
immer wieder die abfälligen Außerungen der Altbürger über diese ungehörige Verschleuderung 
der Zivität, von Cicero an, der klagt: der tote Cäsar (d. h. Antonius nach Cäsars hinterlassenen 
Verfügungen) gewähre ganzen Ländern und Völkern das Bürgerrecht. Aber diese Klagen 
konnten die Entwicklung nicht aufhalten. Einen entscheidenden Schritt tat Caracalla: er ver- 
lieh allen freien Reichsangehörigen, mit einziger Ausnahme der decitici##, das römische Bürger- 
recht 2. Die Ausnahme umfaßte allerdings noch viele Millionen von Untertanen: die kopf- 
steuerpflichtigen Einwohner der durch decitio an Rom gelangten Provinzen, die innerhalb des 
Reiches von den Kaisern angesiedelten Barbaren, die den deciiticüt gleichgestellte schlechteste 
Klasse von Freigelassenen, und da ferner durch Freilassung unter gewissen Voraussetzungen 
immer noch libertas sine civitate erworben wurde 7, so verschwanden durch die constitutio 
Antoniniana weder Latinität noch Peregrinität. Immerhin aber war dadurch in sehr weitem 
Umfange die Rechtsgleichheit unter den Untertanen hergestellt. Die ständischen Abstufungen: 
ordo senatorius, Ritter und Plebs, bedingen keine Rechtsungleichheit von irgendwelcher Be- 
deutung. 
So gewiß nun die Konstitution Caracallas in der Konsequenz der allgemeinen Entwick- 
lung lag, so gewiß stellte die Maßregel, wie sie getroffen wurde, einen überaus schweren und 
harten Eingriff in die bestehenden Rechtszustände dar 4. Bis dahin hatten im römischen Reich, 
Degen kolb, Rechtseinheit und Rechtsnationalität im altrömischen Reich. 
* So der in der Hauptsache richtig ergänzte Wortlaut der in einem Gießener So# W-- 29) 
leider nur fragmentarisch erhaltenen Konstitution. Daß diese, wie Dio Cass. 77, 10 es in seinem 
Hasse gegen den Kaiser darstellt, nur aus steuerlichen Rücksichten („um seine Einkünfte zu ver- 
mehren") erlassen worden sei, ist höchst unwahrscheinlich. Problematisch ist die Ergänzung des 
Passus 4100)640vra (##oreou)re)“, wodurch aber die hinsichtlich der dediticüü gemachte 
Ausnahme doch wohl nicht in Frage gestellt wird. 
* Uber die zur Zeit ihrer Erlassung vorhandenen Latini dieser Art sagt der erhaltene Text 
der constitutio Antoniniana nichts. Sollten diese das römische Bürgerrecht erhalten haben? Das 
ist doch 7 unwahrscheinlich. 
Bal. Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des röm. Kaiser- 
reichs (1891) S. 159 ff.
	        
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