356 II. Geschichte und System des deutschen und römischen Rechts.
übrigen umfaßt der Begriff gleichmäßig die allgemeinen Verordnungen, wie die speziellen
Reskripte und Dekrete, und ohne Unterschied zwischen Verwaltungs- und Justizsachen. Die
rechtliche Kraft aller dieser Verfügungen war ursprünglich ohne Zweifel nach den einzelnen
Verhältnissen verschieden bestimmt. Der Kaiser stand nicht über dem Gesetze. Der Satz:
princeps legibus solutus est (D. 1, 3, 31) bezieht sich selbst noch im Munde Ulpians lediglich
auf die Befreiung des Kaisers von gewissen Formvorschriften (bei Freilassung, bei Adoption)
und von den lästigen Beschränkungen namentlich durch die lex Papia Poppaea. Und ebenso
äußert sich Kaiser Alexander (C. 6, 23, 3). Die Mandate erloschen mit dem Tode des Mandanten
und bedurften, wenn sie weiter gelten sollten, der Erneuerung durch den Nachfolger. Das-
selbe war wahrscheinlich ursprünglich bei den Edikten der Fall; sie verloren, wie die alten magistra-
tischen Edikte, ihre Geltung mit dem Ablaufe der Amtsdauer des Edizenten 1. Jedenfalls waren
sie, gleich den sonstigen acta Caesaris, der Aufhebung ausgesetzt, wenn der Kaiser nach dem
Tode durch den Senat wegen Hochverrats verurteilt wurde (damnatio memoriae). Ob es
damit immer juristisch genau genommen wurde, ist eine andere Frage. Die Dekrete und Re-
skripte waren an sich stets nur Entscheidungen des Einzelfalles. Aber nicht nur, daß Reskripte
vorkamen, die, obwohl nur an einen Beamten gerichtet, dennoch sich selber allgemeine Be-
deutung beilegten (die epistulae generales oder rescripta generalia D. 11, 4, 1, 2; 24, 4, 1, 3;
35, 2, 89, 1), — auch die Spezialentscheidungen genossen, wenn sie auch nicht, wie vielfach be-
hauptet wird, als authentische Interpretation der entschiedenen Rechtsfrage galten, doch eine
ähnliche Autorität wie etwa heute die unseres Reichsgerichts, und diese verloren sie sicherlich
auch nicht durch den Tod ihres Urhebers. Seit Trajan und Hadrian kam es auf, Reskripte, die
eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung beanspruchten, durch öffentlichen Aushang
dem Publikum bekannt zu geben und in einer amtlichen Sammlung zu vereinigen (liber libel-
lorum rescriptorum et propositorum) 2, woraus dann die Juristen zu schöpfen vermochten,
und vom Ende des 2. Jahrhunderts ab bis auf Diocletian ist diese Art der Veröffentlichung
der Reskripte die Regel. Im Laufe der Zeit befestigte sich allmählich die Annahme, daß alle
Verfügungen der Kaiser (die Mandate ausgenommen) vicem legis, d. h. Kraft der Volksgesetze
hätten. Begründet wurde diese Annahme damit, daß der Kaiser das Imperium vom Volke
erhalte (Gaius 1 5) oder daß das Volk ihm sein ganzes Imperium übertragen habe (Ulpian D. 1,
4, 1 pr.?). Wann diese Anschauung Geltung gewann, ist ungewiß. Nach Gai. I1 5 wäre sie
niemals bestritten gewesen, was nicht glaublich ist 2. Dio Cassius (53, 18) trägt unter Alexander
vor, die Kaiser seien von allem gesetzlichen Zwange befreit und durch kein geschriebenes Recht
gebunden. — Das Verhältnis des Kaisererlasses zum Senatsgesetze ist hiernach anfänglich das:
der Kaiser kann den Senatsbeschluß wohl auslegen, d. h. einschränken oder ausdehnen, aber
nicht aufheben (D. 48, 10, 15 pr.; 47, 11, 6, 1). Nachdem aber die Gesetzeskraft der Konstitu-
tionen anerkannt worden ist, beseitigt der Erlaß auch das Senatuskonsult. Wieweit freilich die
römischen Juristen das durch die Konstitutionen geschaffene Recht dem ius civile beizählten,
ist eine bestrittene und nach dem Stand der Quellen wohl kaum mit voller Sicherheit zu ent-
scheidende Frage “.
V. Die Jurisprudenz.
§s 44. Wesen der Jurisprudenz. Das Hauptelement für die Rechtsentwick-
lung der ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit war, wie schon oben hervorgehoben ist, die Juris-
prudenz. Sie ist überhaupt das, was dem römischen Rechte seine welthistorische Bedeutung
gesichert oder eigentlich verschafft hat. Die römischen Gesetze, Edikte, Konstitutionen mit
1 Darin, daß gelegentlich von der Aufhebung eines Edikts durch Nachfolger des Edizenten
die Rede ist (D. 28, 2, 26), liegt jedenfalls kein Beweis dafür, daß es beim Tode des Edizenten auch
ohne Erneuerung fortgalt. (A. M. Kipp, Gesch. der Quellen S. 70 N. 14, wo auch Literatur).
Die Kenntnis dieses Verfahrens verdanken wir einem Reskript Gordians an die Skapto-
parener (Sruns, Fontes I p. 263); vgl. Mommsen, 3ZR. XXV S. 244 ff. Über die
Proposition der kaiserlichen Erlasse in den Provinzen vgl. Wenger, Vischr. f. Soz. u. Wirtsch.=
Gesch. 1911 S. 192 ff.
* Ebendeshalb hält Kniep, Gaius S. 38 die Stelle für ein späteres Einschiebsel.
* Vgl. Wlassak, Krit. Studien (1884) § 8—11, besonders S. 189 ff. Siehe auch Ehr-
lich, Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen I S. 138 ff.