3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 357
ihren vereinzelten Bestimmungen würden nie imstande gewesen sein, eine weit über das römische
Reich hinausgehende Bedeutung zu erlangen.
Um diese Bedeutung derrömischen Jurisprudenz gehörig zu würdigen,
muß man von dem wesentlichen Gegenste ausgehen, in dem sie zu der heutigen Rechts-
wissenschaft steht. Vergleichen wir die Uberreste der römischen Juristenschriften mit der
modernen Rechtsliteratur, so bemerken wir vor allem, daß die Alten die Abstraktion, die Re-
duktion der Einzelerscheinung auf allgemeine Begriffe und der Rechtssätze auf allgemeine
Prinzipien bei weitem nicht bis zu dem Grade treiben wie wir. Sie erörtern an hundert
Stellen Einzelfragen, die sich an die Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte knüpfen; aber sie haben
keinen allgemeinen Begriff und keine allgemeine Theorie weder der Nichtigkeit noch der An-
fechtbarkeit. Sie berichten uns eingehend über den Abschluß gewisser obligatorischer Ver-
träge, — der Begriff des Vertrags, geschweige denn der des Rechtsgeschäfts, ist ihnen fremd
geblieben. Sie sprechen vom Irrtum bei den verschiedensten Gelegenheiten, — über den
Irrtum im allgemeinen finden wir nur ein paar dürftige Gemeinplätze. Und so steht es durch-
aus. Ein Zweites ist, daß die Römer auf sorgfältige Analyse der Begriffe ganz und gar nicht
das Gewicht legen wie die Modernen. Dabei ist nicht bloß an ihre bekannte Abneigung gegen
Definitionen zu denken. Man kann den Wert der üblichen kurzen „diagnostischen“ Definitionen
für sehr problematisch halten, die möglichst erschöpfende Analyse der Rechtsbegriffe erscheint
unserer Rechtswissenschaft ganz unentbehrlich. Aber es gibt kaum einen wichtigeren
Rechtsbegriff, den ein römischer Jurist auch nur annähernd genau analysiert hätte. Nicht
außer Zusammenhang hiermit ist eine weitere Eigentümlichkeit: die Sparsamkeit, mit der die
Römer sachliche Begründungen geben; ja sie verschmähen oft überhaupt jede Begründung ihrer
Entscheidung, antworten auf vorgelegte Fragen nur einfach mit Ja oder Nein. Daß wir die
Gründe meist leicht zu ergänzen vermögen, kann an der Tatsache nichts ändern, und auch
Kontroversen, bei denen die Gründe der entgegengesetzten Meinungen für uns gar nicht oder
sehr schwer zu entdecken sind, werden uns meist nur einfach als Meinungsverschiedenheiten
überliefert. Um so häufiger freilich findet sich als Begründung die Berufung auf die Auto-
rität älterer Vorgänger. Wer aber daraus auf ein Interesse an der historischen Entwicklung
der Rechtsinstitute schließen wollte, würde sich täuschen; der rechtsgeschichtlichen Forschung,
der wir Modernen unsere glänzendsten und gesichertsten Ergebnisse verdanken, steht der römische
Jurist sehr gleichgültig gegenüber. Nicht als ob sich nicht hie und da wie bei Gaius, historische
Notizen fänden; manches dergleichen mag auch von den Kompilatoren weggestrichen sein.
Aber der Gedanke, das Wesen eines Rechtsinstituts dadurch zu ergründen, daß man sein Wachs-
tum von seiner historischen Wurzel aus bis auf die Gegenwart verfolgt, ist, soweit wir wissen,
römischen Juristen überhaupt nicht gekommen. Und wie mit der geschichtlichen Forschung steht
es endlich auch mit einem anderen wissenschaftlichen Bestreben, das bei den Modernen die
eifrigste Pflege findet; die Systematik der Römer läßt außerordentlich viel zu wünschen übrig.
Das einfache und relativ klare System, das wir bei Gaius finden und das wohl nicht erst er
erdacht hat, wurde nur für die Zwecke des ersten Rechtsunterrichts adoptiert. Sieht man davon
ab, so scheint die größte Tat der Römer auf dem Gebiete der Systematik das System der
lbri juris civilis des Sabinus zu sein, ein System, in dem bezeichnend genug (wie übrigens
schon bei Q. Mucius) das Erbrecht, das eigentlich alles andere voraussetzt, an der Spitze steht.
Aber weder nach diesem noch nach irgendeinem anderen System ist es jemals zu einer wirk-
lich eingehenden Bearbeitung des gesamten römischen Privatrechts, wie wir solche in unseren
Lehrbüchern besitzen, gekommen. Gerade die bedeutenderen unter den römischen Juristen-
schriften sind nur Sammlungen lose aneinandergereihter Erörterungen oder Entscheidungen,
wobei mindestens seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. von allen die gleiche Ordnung befolgt wird,
und zwar eine Ordnung, die schon gegenüber dem System des Gaius überhaupt nicht als System
bezeichnet werden kann 1.
Nach alledem ist klar, daß uns die Römer ganz und gar nicht, wie man wohl behauptet
hat, Vorbilder der wissenschaftlichen Methode sein können. Das, worin wir uns von ihnen
unterscheiden, bedeutet durchweg nicht Rückschritt, sondern Fortschritt in der Methode. Man
Bgl. die Zusammenstellung bei Lenel, Palingen. II col. 1255.