3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 363
philosophischen Standpunktes wesentlich nur die Tradition der großen Vorgänger und der Stolz
auf diese Lehrer war. Im übrigen haben sich jene inneren Gegensätze gewiß sehr bald aus-
geglichen. Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß sehr viele der zwischen den Schulen
bestehenden Kontroversen sich um Fragen drehen, die mit wissenschaftlichen Gründen über-
haupt nicht entschieden werden können, sondern nur durch Autorität.
Den Anfang der eigentlichen Schulen hat man ziemlich bald nach Labeo und Capito
selbst zu setzen; darauf deutet wenigstens, daß die Schule des Capito nach seinem unmittelbaren
„Nachfolger“ Sabinus benannt wurde und die des Labeo nach einem zweiten Nachfolger
Proculus:. Fortgedauert haben die Schulen bis auf Hadrian. Noch bei Gaius, der
selbst Sabinianer ist, tritt der Streit sehr hervor. Wie und warum die Schulen aufhörten, ist
unklar. Man könnte vermuten, daß die Wissenschaft durch die großen Juristen der Hadriani-
schen Periode auf andere Probleme als die Schulkontroversen hingewiesen wurde, und daß
andere Gegensätze an Stelle der abgelebten traten.
§ 49. Von der Geschichte der einzelnen römischen Juristen wissen wir nicht
viel. Die römische Geschichtschreibung der Kaiserzeit schrumpft ja bei den römischen Histo-
rikern fast ganz zu einer Geschichte der Kaiser zusammen. Was mit diesen nicht in Berührung
tritt, wird der Vergessenheit überlassen. Daher erfahren wir von den Juristen immer nur ein-
zelne gelegentliche Notizen, wenn sie höhere Amter hatten oder sonst in die Kaisergeschichte
verwickelt wurden. Und dazu kommen eine Reihe von Inschriften. Von vielen kennen wir
geradezu nichts als ihre Namen und ihre Bücher. Man darf sich aber auch die Zahl dieser
schriftstellernden Juristen nicht zu groß denken und nicht etwa heutige Maßstäbe anlegen. In
den Pandekten sind 40 Schriftsteller exzerpiert, davon sind 34 aus der Zeit von Augustus bis in
die Mitte des 3. Jahrhunderts. Sie waren zwar nicht die einzigen, aber doch mit wenigen
älteren Ausnahmen die einzigen bedeutenden. Außerdem kennen wir noch etwa 50 Namen.
Darüber hinaus kann es nichts Nennenswertes mehr gegeben haben.
Die Juristen der ersten anderthalb Jahrhunderte der Kaiserzeit gruppieren sich begreif-
licherweise um die Schulen. Der Nachfolger des Capito war Masurius Sabinus. Er
hat kein höheres Amt bekleidet, lebte zuerst in dürftigen Verhältnissen und wurde von seinen
Schülern unterstützt. Er war Rechtslehrer, erhielt von Tiberius das jus respondendi und
lebte bis in Neros Zeit (Gaius II 218). Sein berühmtes Werk libri III iuris civilis bildete
den Mittelpunkt der späteren Zivilrechtswissenschaft. Ihm folgte als Schulhaupt sein Schüler
(D. 4, 8, 19, 2) C. Cassius Longinus, Konsul im Jahre 30, 65 von Nero verbannt;
er starb bald nach seiner Rückberufung durch Vespasian (c. 72). Er war als Jurist sehr einfluß-
reich (Tacit. ann. XII 12), namentlich auch als Schriftsteller durch seine libri juris civilis (in
Javolens Auszuge 15 Bücher). Nach ihm, ihrem „princeps et parens“, wird die Schule auch
Cassiana genannt (Plin. ep. VII 24). Daß Cassius Rechtslehrer war, läßt sich nicht erweisen,
aber öffentlich Gutachten erteilt hat er sicher (D. 4, 8, 40). Auf ihn folgt als Schulhaupt
(Cn. Arulenus) Caelius Sabinus, cos. 69, nach Pomponius unter Vespasian bedeutend:
wir kennen von ihm nur einen Kommentar zum Adilenedikte. Der heworragendste Führer
der Sabinianer ist C. (L.?) Javolenus Priscus (bcos. vor 90); er bekleidete unter
Domitian und Trajan die wichtigsten militärischen und Verwaltungsämter (CIL. III 2864:
Ephemeris epigr. 5, 652; NRH. 1894 p. 556; D. 40, 2, 5). Außer mehreren Bearbeitungen
älterer Werke schrieb er namentlich 14 Bücher Episteln voll feiner Erörterungen praktischer Fälle.
Ihm folgen gleichzeitig unter Hadrian: (L. Fulvius?) Aburnius Valens, aus vor-
nehmer senatorischer Familie (CIL. VI 1421), später anscheinend im consilium Hadrians, als
Schriftsteller aber nicht bedeutend, ein ganz unbekannter Tuscian und Julian (§ 50).
Die Schulhäupter der Proculianer sind nacheinander M. Coccejus Nerva, der
1 Bgl. die Übersicht bei Baviera, l. c. p. 38 ff.
* Uber das Alter der Schulbezeichnungen vgl. Baviera, Scritti giur. I p. 110 ff. (zuerst
in Studi Scialoja 1), aber auch Kipp, 8RG. XXXIV S. 396. Der Name Cassiani scheint älter
als der Sabiniani, so daß die Vermutung nahe liegt, erst Cassius sei der eigentliche Schulstifter
gewesen. Daß Labeo und Capito nicht etwa selber die Schulen gestiftet haben, darf als gewiß
gelten. Vgl. auch Jörs, bei Pauly-Wissowa s. v. Cassiani.