3. Bruns-Lenel, Geschichte und Quellen des römischen Rechts. 391
die Justinianischen Gesetzbücher verdrängt worden 1. Im 12. Jahrhundert kam es zwar in Ver-
gessenheit und wurde erst im 16. wieder aufgefunden, indessen gibt es noch eine Menge von
Handschriften (über 70), teils vollständige, sogar noch mit Zusätzen aus den echten römischen
Quellen vermehrte, teils mehr oder weniger abgekürzte 2. Eine eigentümliche freie Bearbeitung
und Vermischung mit germanischem Rechte entstand wahrscheinlich noch im 8. Jahrhundert
in Graubünden (Churrätien), das früher völlig romanisiert war, aber später viele germanische
— namentlich alemannische — Einwanderer erhalten hatte. Man nennt diese die lex Romana
Curiensis oder auch Utinensis, weil die erste Handschrift davon in Udine gefunden ist s.
2. Bei den Burgundern hat König Gundobald (474—516) zwei Gesetzbücher er-
lassen, die in der nächsten Beziehung zueinander stehen. Einmal die sog, lex Gundobada, wahr-
scheinlich um 495, eine Sammlung von Verordnungen des Königs selbst und seiner Vorfahren,
für die Burgunder, aber auch für die Rechtshändel zwischen Burgundern und Römern be-
stimmt. Die Geltung des römischen Rechtes für die Römer wird dadurch nicht berührt; eine
Gesetzsammlung für sie wird gleichzeitig versprochen. Das ist die sog. lex Romana Burgundio-
num, eine Anweisung an den Richter in 47 Titeln über Straf-, Privat= und Prozeßrecht. Die
Titel gehen der Gundobada parallel und zeigen den gleichen Mangel an Ordnung: sie wollen
die Fragen nach römischem Rechte behandeln, die dort für die Burgunder entschieden sind. Ihre
Quellen sind die drei codices, Pauli sententiae, eine Schrift des Gaius, doch wohl die Institu-
tionen, und Interpretationen der Schulen; wo sie versagen, fehlt die Entscheidung. Hiernach
ist kein Zweifel, daß König Gundobald auch dies Gesetz erlassen hat, wahrscheinlich vor dem
Breviare; denn es sind Stellen des Paulus benutzt, die sich dort nicht finden. Die lex soll nur
eine Erleichterung für den Richter sein; das übrige römische Recht gilt natürlich weiter. Nach
der fränkischen Eroberung benutzte man sie zur Ergänzung des Breviars, und damit wird die
lex in den Handschriften oft verbunden. Daraus ist schon im 9. Jahrhundert der sonderbare
Irrtum entstanden, als ob sie nur die Fortsetzung der kurzen Stelle aus Papinians Responsen
wäre, die den Schluß des Breviars bildet. Man nannte sie später Papian, als Abkürzung von
Papinian, ein Name, der sich trotz seiner Sinnlosigkeit bis in die Gegenwart erhalten hat “.
3. Im fränkischen Reiche im nördlichen Frankreich wurde zwar kein eigenes
Gesetzbuch für die Römer erlassen, indessen blieb das römische Recht für die römische Bevölkerung
auch hier in Geltung. Es trug dazu namentlich das westgotische Breviar bei, das vom 6. bis
10. Jahrhundert die allgemeine Quelle war. Doch erlangte das Werk hier nie eine eigentlich
gesetzliche Geltung, auch scheint die römische Bevölkerung hier geringer als im Süden geblieben
zu sein. Darauf beruht es, daß die germanischen Gewohnheitsrechte hier das Übergewicht
bekamen und man den Norden und Süden später unterschied als pays du droit coutumier und
du droit Ecrit.
4. In Italien konnte natürlich die kurze Herrschaft Odovakars (476—493) das römi-
sche Recht nicht verdrängen. Allein auch Theoderich dachte bei der Gründung seines ost-
gotischen Reiches (493) nicht daran. Er wollte — abweichend von den anderen germanischen
Fürsten — die Einheit des römischen Reiches aufrechterhalten. Darum tritt er als Reichs-
verweser für den Westen auf; sein Hof ist vollständig wie der römische eingerichtet, und die
Zivilverwaltung wird durchgängig von Römern geleitet. Dagegen wird das Heer ausschließlich
aus den Goten gebildet und lediglich von Goten befehligt. Theoderich selbst, der als römischer
magister militum Italien eroberte, hat anscheinend die Heermeisterwürde auch später für sich
Bgl. v. Wretschko, in Mommsens Theodosianus I p. CCCVII sc., Conrat,
Gesch. der Quellen I S. 31—80.
* Herausgegeben ist es vollständig nur zweimal: von Sichardt, C. Theod. 1. XVI,
quibus sunt adiectae nov. Theod. etc. 1528; und neuerdings mit Benutzung aller Handschriften
und reichen Prolegomena von Haenel, Lex Romana Visigothorum. 1849. Der 1887 entdeckte
Codex rescriptus von Leon — Leg. Rom. Wisig. fragm. ex codice S. Legionensis ecclesiae edid.
reg. hist. acad. Hisp. 1896 — hat die darauf gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Eine systematisch
geordnete UÜbersetzung bietet Conrat, Breviarium Alaricianum 1903.
Ausgabe von Zeumer in den Monum. Germ. Leg. V; vgl. auch Zeumer, Z86.,
germ. Abt. XXII S. I s. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte. 2. Aufl., I S. 517 ff.
Die neueste Ausgabe mit kritischer Einleitung ist von Salis in den Monum. Germ. hist.
Leg. I tom. 2 (1892).