Grundzüge des römischen Privatrechts. 409
gegründet ist und unter eindringlicher Beobachtung der Verkehrssitte stetig vertieft wird, die
Leitgedanken, die in den Schlagworten vom favor libertatis, favor testamenti, favor dotium
zusammengefaßt erscheinen — sind nicht bloß die fruchtbarsten Keime der byzantinischen und der
modernen Weiterentwicklung geworden, sondern schon bei den Juristen des späteren Prinzipats
von bedeutender Wirkung. Ganz vornehmlich aber erreichte ihre Auffassung von der Gerechtig-
keit als dem guten und billigen Recht, vom Rechte als dem immanenten Prinzip des staatlich
geordneten Lebens eine unvergleichliche Tragweite; stammt sie, die in den hellenistischen Ge-
setzen ebenfalls zutage tritt, von den griechischen Philosophen, so haben diese nie bessere
Schüler gehabt.
§8 5. Gesetzesumgehung und Rechtsmißbrauch. In welchem Maße es den Römern ge-
lingt oder nicht gelingt, des Formalismus Herr zu werden, zeigt sich recht deutlich auf einzelnen
Gebieten der Rechtsanwendung. So gilt ursprünglich das Gesetz strenge nach seinem Wortlaut,
die Enge der gesetzlichen Verbote ermöglicht ohne weiteres ihre Umgehung, die oft durch typische
Akte im großen betrieben wird (z. B. Gai 2, 225. 226). Die Mehrzahl der nachgeformten
Rechtsgeschäfte verdankt der Gesetzesumgehung ihr Leben. Dagegen schützen sich einzelne
Gesetze durch eigene Klauseln gegen die fraus“ wie die Lex Fufia Caninia (Gai. 1, 46), und
das prätorische Edikt läßt nur pacta gelten, die die Gesetze weder verletzen, noch sie umgehen
(D. 2, 14, 7, 7). Die kraus wird als Zuwiderhandlung gegen den Willen des Gesetzes ohne
direkte Verletzung seiner Worte definiert (Paul. u. Ulp. zur Lex Cincia D. 1, 3, 29. 30). Hier ist
ein deutlicher Ansatz zur richtigen Theorie gegeben, die die Gesetzesumgehung in der sinngemäßen
Auslegung des Gesetzes aufgehen läßt. Aber nur ein Ansatz, der Gegensatz zwischen beiden
macht sich immer fühlbar, wo Gesetz oder Sondervorschrift der Praxis nicht die fraus verpönen.
Auch Justinian hat die richtige Verallgemeinerung nicht getroffen. Wahrscheinlich will er sehr
abwegig, wo der Inhalt des Gesetzes nicht hinreicht, auf seinen Zweck sehen, kommt aber überhaupt
nicht über einzelne Erweiterungen von gesetzlichen Verboten hinaus!.
Ebenso wenig gehört den Klassikern der Satz, daß die Ausübung eines Rechts unzulässig
sei, wenn sie nur den Zweck verfolgt, einem anderen Schaden zuzufügen (Schikane). Justinian
hat dies in das Wasserrecht gebracht (D. 39, 3, 1, 12; 2, 5 u. 98,). Aber vielleicht hat schon Celsus
D. 6, 1, 38 das nutzlose Zerstören von Aufwendungen verpönt (neque malitiss indulgendum
ests), jedenfalls wird das Verbot der Sklavenmißhandlungen durch Antoninus Pius von
Gai. 1, 53 eben mit demjenigen Gedanken gerechtfertigt: „Male enim nostro ijure uti non debe-
mus“, der den Rechtsmißbrauch in vollstem Maße auszuschließen geeignet wäre (Schweiz.
Z6B. Art. 2) und das erfolglose Schikaneverbot des § 226 BGB. weit hinter sich läßt.
§ 6. Allgemeine Begriffe. Die technischen Ausdrücke des Corpus iuris, aus denen wir
unsere allgemeinen Begriffe von subjektivem Recht, Rechtsnachfolge, Rechtsgeschäft und Vertrag
samt den vielen Unterbegriffen entnommen haben, stellen sich teils als byzantinisch heraus,
teils entbehren sie der festen Prägung, die ihnen die Modemre beilegte. Schlimme über-
treibung aber ist es, den Klassikern die Begriffe selbst abzustreiten, aus denen wir uns genährt
haben. Besonnene Kritik erprobt vielmehr bei den meisten Kategorien, daß von ihnen das-
selbe gilt, wie es vom „Rechtsgeschäft richtig festgestellt wurde: Der Begriff wurde
mehr gefühlt als ausgearbeitet und nicht wie bei uns zur Grundlage der Theorie gesetzts; aber
1 Praktisch sind dabei die kompilatorischen Verbesserungen regelmäßig durch dolose Um-
gehungen verursacht; daher spielt der dolus (D. 5, 1, 15, 1) und die excogitatio (D. 14, 6, 3, 3;
40, 9, 14, 5; 16, 1, 20, 1, vielleicht echt Paulus) die Hauptrolle. Über das klass. und * Recht
bestehen vom Text abweichende Ansichten. Ivo Pfaff, In fraudem legis agere 1892; Pac-
chioni, Riv. dir. Comm. IX 2 (1911) 331; Rotondi, 6ll atti in frode alla legge, Tor. 1911
u. Bull. 26, 221; Le wald, ZSavSt. 33, 586.
„ Peroz zi, Ist. 1, 364. Umgekehrt darf auch der Satz nullus videtur dolo facere qui
suo iure utitur (Gai. D. 50. 17, 55) nicht überspannt werden; über den Sinn der Stelle Lenel,
Paling. Gai. 13.
* Für die hötbet Erman, ZöSavt. 25, 352 gegen Eisele, Kompensation 84: Per-
nice Tabeo II 2 294.
.Pfaff, Prodigalitätserklärung 24 N.
örs in Birkmeyers Enzyklopädie, 1. * 99. Mitteis, PR. 4 9. Fadda,
Parte t (Nap. 1909) 177, 208.