Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

Grundzüge des römischen Privatrechts. 413 
zumal den Adoptierten hinzugefügt, den Emanzipierten fortgenommen. Gewaltfrei (8ui 
juris) ist, wer keinen Vater oder väterlichen Großvater über sich hat; auch das neugeborene 
Kind heißt unter dieser Voraussetzung mit dem alten „patriarchalischen“ Namen pater (Ulp. 
D. 50, 16, 195, 2). Durch Tod oder capitis deminutio des Hausvaters werden Söhne und 
Töchter und die Kinder vowerstorbener Söhne gewaltfrei (sui heredes). 
Mit der Hausverfassung hängt die agnatische Familie zusammen, wenngleich das agna- 
tische Band privatrechtlich am stärksten wirkt (Erbrecht, Vormundschaft), wo der Tod des Ge- 
walthabers dessen Macht beendet hat und es Agnation ohne patria potestas gibt, z. B. die 
des Posthumus, des testamentarisch Adoptierten oder bei Gai. 1, 67; 2, 142. Der Hauptsache 
nach hält doch die väterliche Gewalt — ursprünglich und tiefer betrachtet, allerdings 
m. E. nicht sie, sondern das durch sie vertretene Haus — die agnatische Familie zusammen. 
Ganz nebensächliche Grenzfälle abgerechnet, darf es daher bei der modernen, an Ulp. D 50, 
16, 195, 2 anschließenden Definition verbleiben: Agnaten sind die Personen, die unter einer 
Hausgewalt verbunden sind oder es wären, wenn der Vorfahre noch lebte 1. Insbesondere 
sind Geburt in rechter Ehe und künstliche Lösung oder Knüpfung der Hausgewalt zugleich für 
die Zugehörigkeit zu der zivilen Familie entscheidend und können Frauen so wenig wie eine 
Gewalt ausüben, die Familie fortsetzen. Mulier familise suae et caput et finis est (Ulp. 
1. c. § 5). 
Die agnatische Familie hat noch im Prinzipat die Grundstellung nicht bloß im zivilen, 
sondern auch im prätorischen Recht?, und nur sehr langsam weicht sie daraus im Zuge der großen, 
bis zu Justinians Novellen reichenden Entwicklung zugunsten der sog. natürlichen Familie, 
die bei den Klassikern noch nie Familie heißt (und in D 50, 16, 195, 4 nicht gemeint ist). 
Die nächsten Blutsbande haben seit jeher gewisse verstreute rechtliche Folgen, wie für 
die Ehehindernisse und die Blutschande 2. Auch sind sie neben anderen Naheverhältnissen ent- 
scheidend, z. B. für den Nächstenmord nach der Lex Pompeia (70 v. Chr.), für die Ausnahmen 
von den Verboten des Furischen Legatsgesetzes und der Lex Cincia über die Schenkungen. 
Wichtiger wurde, daß die durch Capitis deminutio aus der Agnation ausgeschiedenen Bluts- 
verwandten und die durch Frauen verwandten Personen verschiedentliche Berücksichtigung 
genießen. Deshalb (Paul. D. 38, 10, 10 pr. lobwohl nicht ganz echt]) stellt man aber doch 
nicht eine rein auf Verwandtschaft oder auch nur eheliche Abstammung gegründete Familie 
auf, sondern legt nur um den Agnatenkreis einen weiteren der Cognati herum, so daß jeder 
adgnatus, z. B. auch der Adoptierte, als cognatus gilt (ebd. § 4; „cog. civilis“ Mod.? 1. 4 52, 
vgl. D. 2, 4, 7) und es keine Kognation in männlicher Linie ohne Agnation gibt, also keine 
uneheliche mit dem Vater. Damit ist namentlich der Kreis der prätorischen Erbfolgeberech- 
tigten ohne und gegen das Testament gegeben, nur daß genauere Abgrenzungen nötig sind, 
z. B. wegen des Satzes, daß niemand gleichzeitig zwei Familien angehören kann und wegen 
der mit dem Vater gleichzeitig zur Zivität gelangenden Peregrinenkinder (Gai. 3, 20, 20). 
Unbefangen wird der Begriff der parentes nach dem Edikt gegen die gerichtliche Ladung 
der Respektspersonen gefaßt (D. 2, 4, 1. 4—8 pr.), sowie derjenige der liberi nach dem ver- 
wandten Edikt D. 2, 8, 2, 5 2". Vollends von den S. Tertullianum (Hadrian) und Orfitianum 
(178 n. Chr.), die zwischen Mutter und Kind zivile Erbrechte begründeten, nimmt dann die 
nachklassische Kaisergesetzgebung ihren Ausgangspunkt, um im Erbrecht immer stärker die Bluts- 
verwandtschaft neben und vor die agnatische zu schieben. 
Desgleichen hat das außerordentliche Verfahren der Kaiserzeit den nächsten Blutsver- 
wandten untereinander mehr und mehr Unterhaltsansprüche gegeben, im Vormundschafts- 
wesen den Wünschen der Mutter mehr und mehr Einfluß eingeräumt u. dgl. m., und so ge- 
  
1 Umständlicher, aber nicht besser Gai. 1, 156 und wohl auch nicht vorzuziehen die sehr genau 
ausgearbeitete Definition bei Moriaud, be la simple famille paternelle (1910) 50; auf jene 
Grenzfälle sollte nicht so viel Wert gelegt werden, wie die verdienstliche Schrift meint, sie treffen 
nicht die gemeinsame historische Grundlage der patria potestas und der Agnation: die Haus- 
genossenschaft. Vgl. über diese unten Lit. zu § 125. 
* Für die prätorischen Erbrechte der liberi zeigt dies Moriand a. a. O., bes. 154. Daß 
die „Kognation" schlechthin alle Grade ohne Grenze umfaßt, beweist Perozzi, Studi Brugi. 267. 
* Näheres Mommsen, Strafrecht 683, zur Lex Pompeia 654. 
4 S. 41 3, 1. Satz (der 2. Satz ist itp., Tanzucchi,t Riv. ital. 47, 253.
	        
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