J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 39
zum Förderungsmittel der ethisch und wirtschaftlich gedeihlichen Bestrebungen. Heutzutage
würden wir trotz allen Versprechens Jephtas Tochter nicht dem Tode weihen 1.
Das Schuldrecht ist aus dem Einzelsein hervorgegangen, es ist ein Hort des Einzelseins;
es ist aber zugleich ein ungeheures Hilfsmittel der Gesamtheit, um die Kräfte und Vermögens-
massen in der richtigen Weise zur ausgiebigen Verwertung zu bringen; und es zeigt sich hier,
wie im Eigentum, die unaussprechliche Weisheit des Weltalls, das die Einzelnen getrennt
marschieren und vereint schlagen läßt.
§ 29. Form.
Soweit das Versprechen sich als Opfer der Person darstellt oder ein geistliches Gelöbnis
enthält, ist es von alters her unbedingt fest und unverbrüchlich. Es verlangt hier von selbst
seine das Opfer oder Gelübde betätigende Form. Formlose Versprechungen entwickeln sich im
Laufe der Zeit bei Austauschgeschäften, namentlich auch bei Arbeits-, Miets- und Pacht-
verträgen.
Solche formlose Versprechungen hat die Menschheit nur allmählich und zögernd für verbindlich
erklärt. Die Entwicklung zeigt mehrere Stufen, die allerdings nicht bei allen Völkern zu finden
sind. Die erste Stufe ist die des freien Rücktritts vom Versprechen während einer bestimmten
Zeit, so daß erst nachträglich die Zusage bindend wird.
Die zweite Stufe bekundet eine mittelbare Bindung, indem der Versprechende zwar
zurücktreten kann, aber nur unter Erleidung eines Nachteils, also gegen Zahlung eines Reu-
geldes oder auch gegen noch schwerere Bedrängnisse. Sie läßt sich in morgenländischen Rechten
nachweisen?, aber auch im deutschen Recht. Eine Abart ist
die Entschädigungshaftung; der Versprechende haftet im Fall der Nichterfüllung für Ent-
schädigung, weil die Nichterfüllung als ein zu fühnendes Unrecht gilt (altes englisches Recht).
Die vierte Stufe ist die Stufe, auf der zwar eine unmittelbare Bindung eintritt, aber
erst dann, wenn zum Versprechen etwas anderes hinzukommt. Dies kann sein die teilweise
Erfüllung auf der einen Seite, so daß das Versprechen bereits aus dem Stande des bloß Geistigen
in den Stand körperlicher Wirklichkeit tritt: diese Art der Festlegung zeigt sich im Islamrecht,
sie zeigt sich namentlich im germanischen Recht (der Gottespfennig bindet).
Die fünfte Stufe weist eine unmittelbare Bindung auf, aber nur bei gewissen Verkehrs-
geschäften (klassisch römisches Recht der Konsensualkontrakte, englisches Recht der Konsideration).
Unser heutiges Recht erkennt regelmäßig den formlosen Vertrag als bindend an, macht
jedoch Ausnahmens:; schriftliche Form wird verlangt, wenn der Vertrag abstrakt ist und von aller
Verbindung mit den begleitenden Umständen absieht; besondere Bedeutung gewinnen die-
jenigen abstrakten Verträge, welche, wie der Wechsel, zum Verkehr mit Dritten bestimmt sind:
dies setzt von selbst Schriftlichkeit voraus.
§ 30. Anfechtbarkeit.
Die Gültigkeit des Versprechens verlangt keine Freiheit des Versprechenden in dem Sinne,
daß etwa ein Versprechen anfechtbar wäre, welches durch lebhafte Beweggründe veranlaßt
worden ist; ein derartiger Satz würde den Grundregeln der Wirtschaft und den Grundsätzen
der Ethik in gleicher Weise widersprechen; denn auch, was man unter dem Drange scharf
wirkender Beweggründe gewollt hat, hat man gewollt 3. Wohl aber muß ein Versprechen dann
der Anfechtung unterliegen, wenn die Notlage absichtlich herbeigeführt worden ist, um das Ver-
sprechen zu erpressen: ein solches Tun darf nicht zur rechtlichen Bindung führen. Daher der
Satz: Ein Versprechen kann angefochten werden, wenn es erzwungen ist, oder auch dann, wenn
es von dem anderen Teil erschlichen wurde, in der Art, daß dieser ihn täuschte, ihm falsche Vor-
: Man vergleiche die wunderbare Ausführung in Dante, Paradiso, Canto V, die aller-
dings auf dem Standpunkte der Scholastiker steht.
Im assyrischen Recht finden wir die Klausel, daß der Versprechende für den Fall der
Zuwiderhandlung seinen Sohn oder seine Tochter der Gottheit opfert und verbrennen läßt.
*Coactus volui; so auch schon die nikomachische Ethik III 1. Vgl. auch die wunderbare
Darstellung in Dante, Paradiso, Canto IV. ber das Versprechen in der Notlage vgl. auch
meine Darstellung in den Jahrbüchern für Dogmatik XXV S. Of.