Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

438 Ernst Rabel. 
Man hat oft gefragt, wie dies zugeht, warum z. B. der Prekarist und der Nießbraucher 
Besitzschutz genießen, der Leiher und Mieter nicht. Ihering hat gewiß darin recht, daß die 
Römer die Interdikte nur aus besonderen Zweckgründen zuteilen, mit der Intensität des Be- 
sitzwillens (Savigny) hat ihre Verteilung nichts zu tun 1. Aber aus dem verspäteten Aufkommen 
der freien Mieter und Pächter und ihrer untergeordneten sozialen Lage kann man wenig er- 
klären. Eher haben die Juristen gedacht, daß alle Detentoren, die sich auf obligatorische Ver- 
träge einlassen, sich eben nur auf diese zu verlassen haben. Doch vielleicht dachten sie gar 
nichts derartiges. Von vomherein war der Eigenbesitzer und nicht sein Detentor die gegebene 
Partei wie für den ältesten Prozeß über das Besitzrecht so auch für die gespaltenen Prozesse 
über das Eigentum und über den Besitz. Insofem übrigens der possessorische Streit bestimmt 
war, die Parteirollen für den petitorischen zu verteilen, ging er eben wie dieser nur den 
Eigenbesitzer an. Dabei blieb es für alle Regel. 
§ 35. Die einzelnen Arten des Besitzes und der Detention unterscheiden sich nicht nach 
dem subjektiven Moment des Besitzwillens, sondern nach dem obiektiven des Erwer 
(causa possessionis). Nach einer alten Regel kann sogar der Sachinhaber nicht durch seinen 
Willen eigenmächtig zum Eigenbesitzer aufrücken. Nemo sibi causam possessionis mutare 
potest? (Cels. D. 41, 2, 18 pr.). Damit wird dem Besitzer auf die einfachste Art die civilis 
possessio mit ihren Vorteilen, z. B. Ersitzung gegen Untreue gewahrt. Die Regel läßt sich 
aber im klassischen Recht nicht mehr allseits durchhalten. 
Auch der Eigenbesitz charakterisiert sich vor allem durch die Grundtatsache seines Erwerbs 
6 39. 
§ 36. Erwerb des Eigenbesitzes. Paulus lehrt vom Erwerb des zivilen Eigenbesitzes 
D. 41, 2, 3, 1: ad'piscimur possessionem corpore et animo, d. h. wir erwerben den Besitz 
mit unserem Körper, womit wir die Sache unserer Herrschaft unterwerfen, und mit unserem 
Willen sie zu beherrschen. Diese Formulierung ist weder Paulinische Eigentheorie, noch etwa 
Justinianische Einschaltung, noch verdient sie die vielen Vorwürfe, die man ihr gemacht hat, 
indem man entweder nicht beachtete, daß bloß vom Eigenbesitz und nur von dessen Erwerb, 
nicht dem darauffolgenden Zustand die Rede ist, oder daß gegenüber sonstigen possessorischen 
Verhältnissen nichts Ausschließliches besagt wird. 
1. Obdietatsächliche Gewaltergriffen ist, muß nach den Vorstellungen des Lebens 
und je nach der Natur und Lage der Sachen beurteilt werden; das beherzigen schon die Römer 
in zahlreichen, meist einwandfreien Entscheidungen. Ebenso sicher wissen sie im Einzelfall zwischen 
der einseitigen Erlangung und der übergabe des Besitzes zu unterscheiden. Denn wenn der 
bisherige Besitzer mithilft, dürfen die Anforderungen an die tatsächliche Gewaltergreifung 
(„Apprehension") herabgesetzt werden 3. Unaufhaltsam beginnt schon in Rom jene allmähliche 
Abschwächung der körperlichen Besitzübergabe von Hand zu Hand, die bei uns schließlich dazu 
führte, daß BGB. § 854 Abs. 2 das vertragliche Einrücken in die Lage des Tradenten zu der 
Sache für eine genügende Verschaffung der Sachherrschaft erklärt, während in anderen Ab- 
zweigungen der Entwicklungslinie die Sachübergabe fingiert und beseitigt wurde. Das Corpus 
juris enthält zahlreiche Entscheidungen zugunsten einer Verflüchtigung des „Traditionskorpus“. 
Aber vieles darin ist nachklassisch oder interpoliert, der späte Niederschlag von Vulgarrechten. 
Die Klassiker scheinen doch noch verhältnismäßig nahe dem Ausgangspunkt haltgemacht zu 
haben. Sie verlangen wohl, trotzdem sie selber (in Uberschätzung des Fortschritts) öfter von 
einem adquirere solo animo reden, noch eine wahre Erlangung der Gewalt, und erfordem 
deshalb überall die nt der Sache #. Unter dieser Voraussetzung genügt einverständ- 
1 Paul. D. 13, 7, 37 ist itp.; RKiccobono, Arch. giur. 50, 270. 
Die sehr vielen Versuche zur Erklärung der Regel bei Galy gano, I limiti subiettivi dell“ 
antica usucapio (1913) 23—48. 
2 Aus der Lit. bes. Exner, Die L. v. Rechtserwerb durch Tradition 1867; Brunner, 
Z. Rechtsg. d. röm. u. germ. urkunde 1880; Stro hal, Sukzession in den Besitz 1685. Kohle r, 
Grunhuts g. 12, 1; 14, 162; Arch. bürgR. 18, I. Biermann, Traditio ficta 1801. Neuere 
Lit. über die Urkunden bei Partsch, Z. ges. Hand R. 70, 437. 
4 Riceobono, ZSavt. 33, 259; 34, 159 (nur in Einzelheiten m. E. anfechtbar). Die 
größte Schwierigkeit veru acht C. 8, 53, 1 à. 210, itp. nach Alibrandi, Possesso 56— Opere 
1, 259; Ricoobono 33, 287, aber sehr bezweifelbar restituiert.
	        
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