Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

462 Ernst Rabel. 
Seit einem positivrechtlichen Eingriff anscheinend Caracallas ist aber der Stipulations- 
gläubiger, trotzdem er eine Urkunde hat, schlechter gestellt, indem er auf die Einrede der nicht 
gezahlten Valuta deren Hingabe zu beweisen hat. Vermutlich hat dazu die auch heute z. B. 
von Hypothekengläubigern geübte Praxis geführt, daß der Schuldner den Schuldschein aus- 
händigen muß, ehe er das Darlehen empfängt 1. Außer der zeitlich nicht beschränkten e#xceptio 
(arg. Alex. C. 4, 30, 8, 1) kann der Aussteller die urkundliche Empfangsbestätigung binnen eines 
Jahres durch einen Schriftsatz im außerordentlichen Verfahren entkräften (querela non nume- 
ratae pecuniae) 2. Griechischen Auffassungen aber wird erst Justinian gerecht, indem er u. a. 
nach dem Fristablauf die Urkunde als solche schlechtweg verpflichten läßt (C. 4, 30, 8, 2 itp.) 
— ein bezeichnender Gegensatz zu der Abschwächung in der abstrakten Wirkungsfähigkeit der 
Stipulation. 
§ 65. Andere Verbalverträge sind nach Gai. 3, 95 f. die Dictio dotis und das lus- 
jurandum liberti, obwohl bei beiden Verträgen nur die Rede des Versprechenden formalisiert 
ist. Die dictio ?, z. B. centum tibi doti erunt, ist eine alte Art der Mitgiftbestellung, womit 
die Braut oder ihr väterlicher Aszendent eine Summe oder Sache dem Bräutigam verspricht 
und wird auch angewendet, um einen Schuldner der Braut durch seine dictio zum Schuldner 
des Bräutigams zu machen, sowie um eine Forderung gegen den Bräutigam mitgifthalber 
zu erlassen. In der klassischen Zeit folgt sie den Regeln der Stipulation. Der Eid des Frei- 
gelassenen "“, womit er dem Freilasser Dienste oder Geschenke verspricht, kann vermutlich als 
Wiederholung eines Eides im nicht zivile Verpflichtungen erlaubenden Sklavenzustand prä- 
torisch erzwungen werden (Cic. ad Att. 7, 2, 8; Ven. D. 40, 12, 44 pr.). Es ist das einzige 
Beispiel eines promissorischen Eides in Rom. Die Klage, die der Prätor nach Ulp. D. 38, 
1, 2, 1 zusagt, scheint sich ebenso auf Eid wie auf eine Stipulation stützen zu können, dürfte aber 
amtsrechtliche Natur haben. 
§s6. Litterarum obligatio. Was die Stipulation für den Römer ist, die 
allgemeinste Form der Verpflichtung, ist für den hellenistischen Kulturkreis in der Kaiserzeit 
die schriftliche Verkörperung des Versprechens 5. Die Errichtung einer Urkunde bedeutet zwar 
an sich zu allen Zeiten nur eine Beweissicherung (sog. schlichte Beweisurkunde), die je nach. 
dem verwendeten Hilfsapparat: öffentliche Errichtung oder Beglaubigung, Zeugen, Siegel, 
Unterschriften uff. verschieden stark ausfällt. Und damit hat es nach dem römischen Gedanken 
sein Bewenden ". Aber die griechische Gewohnheit pflegt das Zustandekommen der Rechts- 
geschäfte selber an dasjenige der Urkunde zu knüpfen (sog. Dispositivurkunde). Durch die 
schriftliche Erklärung bindet sich der Versprechende, was im Laufe der späteren Kaiserzeit auch 
äußerlich hervortritt, indem er in der Urkunde immer üfter in der ersten Person redet: öuo#o 
nenpa#cm und schließlich sogar wuni, also das Verfügen durch die Urkunde ausdrückt. 
Die Urkunde vermag also, was die Obligationen angeht, selbständig zu verpflichten; dies lassen 
1 Gneist,. Formelle Verträge 277. Rabel, ZSavöt. 28, 334. Anders Pernice, 
ZSavSt. 13, 285; Frese, 8Savt. 18, 270. Ders., Aus dem gräko-ägyptischen Rechtsleben 
(1909) 24 erklärt mit Recht C. 4, 30, 1 für itp., aber m. E. nicht überzeugend auch die bisher 
als terminus ante duem geltenbe const. 3 C. 4, 30 a. 215. 
: Vgl. C. Hermog. 1, 1. Collinet, Nouv. rev. 1909, 72. — Gegen die von Gneist 63 
begründete Auffassung der Querel —= contestatio hat Collinet, Et. hist. 1, 73 N. 1 eine 
Polemik angekündigt. 
2 Berger, Bull. Acad. Cracovie, avril 1909 u. Zit. Italien. Lit. bei Fadda, parte 
gen. 285. 
4" Lenel, Ed. 5 140;Biondi, ludicium operarum 1913 (S. A. Annali Univ. Perugia 
1. 1914); Thélohan, Et. Girard 1 (1913) 355 u. Travaux juriaägqgues Univ. Rennes 4 
(1912) 195. 
5* Zum Folgenden Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht, 459—498; Gdz. 49, 116; Rabel, 
Z Sa St. 28, 312—344; anders Frese, ZSav t. 18, 252. Anders auch Partsch, Griech. 
Bürgschaftsrecht; Z. ges. Hand R. 70, 447. 475—478, insofern er arg. Dem. 35, 13, 43; 56, 16, 26. 
meint, nur die Klausel : „diese Urkunde soll kräftig (ropla) sein", mache die Urkunde zur aus- 
schließlichen Grundlage für die Beurteilung des Rechtsverhältnisses. 
* Riccobono, ZSavSt. 34, 164; über die Beweiskraft der Privaturkunden Jörs, 
ZSavSt. 34, 144. 152.
	        
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