Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

Grundzüge des römischen Privatrechts. 499 
nicht bemerkte? Diese Streitfrage gehört zu den meistverhandelten des Pandektenrechts. In 
der Not der Quellenanwendung bedurfte es eines gewaltigen Aufwands von Geist und Scharf- 
sinn, um selbst nur die Fragestellungen zu präzisieren, brauchte es gerade schon die Wechselrede 
der bedeutendsten Zivilisten des 19. Jahrhunderts, jene gedankliche Abstraktion des äußeren 
Erklärungstatbestandes vom inneren Willen zu vollbringen. Denn die Römer haben diese Klar- 
heit nicht, obwohl ihr Recht sie darauf hinzuweisen scheint, vielleicht gerade deshalb, weil ihre 
Geschichte sich, wenn man es grob ausdrücken will, umgekehrt vollzieht wie die moderne: von 
einer Art Erklärungsdogma zum Willensprinzip. In Wahrheit lassen sie uns auch bei der all- 
gemeinen Beantwortung der Hauptfrage im Stich, ob — wie es die Erklärungstheorie voraus- 
setzt — die Erklärung für sich Bestand haben kann, wenn der Wille, als dessen Ausdruck sie sich 
gibt, fehlt. Paulus scheint zwar gerade dies deutlich im Sinne des „Willensdogmas“ zu ver- 
neinen, D. 34, 5, 3: „wer etwas anderes sagt als er will, sagt weder was das Wort be- 
deutet, weil er es nicht will, noch das was er will, weil er es nicht spricht.“ In der Tat darf 
Paulus überall als der Vorläufer einer byzantinischen Voluntas-Theorie gelten, die viel zu eigen- 
artig ist, als daß sie im gemeinen Recht hätte durchgreifen können. Aber in der angeführten, 
wohl auf Stipulationen bezüglichen (Lenel Paul. 1392) Stelle handelt es sich um eine zwei- 
deutige Wortfassung: in ambiguo sermone, gar nicht um die Rücksicht auf einen der unzwei- 
deutigen Erklärung widersprechenden Willen. Umgekehrt behandelt Paul. D. 32, 
25, 1: „wenn in den Worten keine Zweideutigkeit ist, ist die Frage nach dem Willen nicht zu- 
zulassen“ für das Damnationslegat wohl bloß den unbezweifelbaren Satz, daß die Aus- 
legung der Erblasserverfügung vor dem klaren Wortlaut halt zu machen hat. 
Für die Römer gibt es zwei Ausgangspunkte. Der Formalismus des älteren Rechts und 
fortdauernd der zivilen Formgeschäfte läßt die Anfechtung einer objektiv klaren Parteierklärung 
wegen Irrtums gar nicht zu. Vielmehr werden mit Selbstverständlichkeit für die Wirkung des 
Rechtsgeschäfts ein für allemal bestimmte Worte verlangt, und wo diese gebraucht sind, tritt 
die Wirkung ein. Der Fortschritt besteht von hier aus in der da und dort durchgesetzten Lockerung 
des Formzwangs und in der entsprechend durchdringenden Auslegung, die sich z. B. bei Testa- 
menten immer stärker dem Willen des Erblassers nähern will. Als Aushilfe dient bei einem 
Teil von Geschäften, namentlich den prozessualen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ob 
errorem. Andererseits bietet im Kaufvertrag das Erfordernis des Konsenses die günstigste Ge- 
legenheit, allmählich über die schlichte Auslegung hinaus zu gelangen. Für die späteren Juristen 
steht fest, daß der „Irrtum über den Gegenstand“ (in corpore) des Kaufs das Geschäft ver- 
hindert — doch wie? Beachtenswert denkt offenbar noch Ulpian im Kommentar zu Sabinus, 
wo er sich an alte Bear beiter des jus civile anzulehnen pflegt, D. 18, 1, 9 pr. den „Konsens“ 
nur dann als fehlend, wenn die äußeren Erklärungen der Parteien nicht zusammenstimmen, 
demnach an den Fall des sogena nunten Dissenses; deshalb scheidet er den Fall aus, daß der Dissens 
nur den Namen, nicht wirklich den Gegenstand betrifft (§ 1 nicht itp.). Ja, indem Ulp. fort- 
fahrend (§ 2) die Frage aufwirft, ob dem Irrtum in corpore derjenige in substantia gleichzu- 
halten sei, hat er noch die ganz übliche Beispielsfassung: „wie z. B. wenn Essig für Wein (pro 
vino), Erz für Gold verkauft wird,“ denkt also daran, daß die Parteien das Faß als Wein 
enthaltend bezeichn en. Die Frage, die in einer solchen Konstellation auftritt, braucht aber 
mit einer juristischen Wirkung des Irrtums noch gar nichts zu tun zu haben: Entweder hält man 
den Kauf für gültig, weil Konsens über das Objekt vorliegt, oder man sieht eine Schwierigkeit 
darin, daß das Objekt nicht existiert. Allerdings mischt sich hier leicht die Rücksicht auf die nicht 
zum Ausdruck gelangte innere Meinung des Käufers ein. In den justinianisch gefärbten Quellen 
mengt sie sich um so wirksamer ein, als Justinian den Willen der Kontrahenten zur obersten 
Norm der Verträge macht, den Konsens gewiß als Zusammenstimmen sowohl der äußeren 
Erklärungen als des inneren Willens faßt. Es ist uns kaum möglich, zu erkennen, wieviel 
davon schon der Severischen Jurisprudenz angehört. Doch dürfte mindestens jenes Beispiel zu 
einer wirklichen Irrtumslehre hinüber geführt haben. Es wird folgendermaßen erledigt. 
Daß die unrichtige Vorstellung eines Erwerbers von der Beschaffenheit der Sache gleich- 
giltig sei, war dem älteren Recht ebenso selbstverständlich wie daß es keine Sachmängelgewähr 
des nichtdolosen Verkäufers gebe. Noch Marcellus, gegen den Ulp. a. a. O. sich wendet, ver- 
tritt dies für den Kauf, für die Stipulation ist es immer so geblieben (Paul. D. 45, 1, 22). Da- 
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