Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 47 
traten zusammen und beratschlagten die Angelegenheiten. Für wichtige Zeiten, namentlich 
im Kriege, setzte man sie unter die Oberleitung eines dazu gewählten Staatshauptes. Mitunter 
gelang es gewissen Familien, ein solches Ansehen zu erlangen, daß die Staatshäupter ohne 
weiteres aus ihnen entnommen wurden. Ein solches Staatshaupt können wir Sachem 
nennen, nach dem Sprachgebrauch der Rothäute, bei denen die Verhältnisse sich am besten er- 
kennen lassen. Die Entwicklung von dem vorübergehenden Totemhaupte zum dauernden 
Sachem, von dem gewählten zum mehr oder minder erblichen Sachemtum ist eine 
wichtige Bewegung in der Geschichte der menschlichen Gemeinschaft. 
Alle diese Kreise wurden durchbrochen, als das Häuptlingtum entstand: mächtige 
Naturen wußten die ganze Verfassung umzustürzen, rafften alle Rechte an sich und identifi- 
zierten sich mit dem Staate. Sie taten es namentlich mit Hilfe der Jugendverbände: aus 
Raub- und Beutezügen entwickelte sich eine Militärmacht, an deren Spitze ein kühner Häupt- 
ling stand, und mit solcher Hilfe rissen kräftige Naturen die Herrschaft an sich. Jetzt galt das 
Staatsgebiet als ihr Gebiet; Eigentum und Weiber der Staatsmitglieder beanspruchten sie 
nach Belieben für sich. Um diese Stellung erklärlich zu machen, führten sie ihr Geschlecht auf 
göttlichen Ursprung zurück: als Sprößlinge der Götter standen sie über den Staatsgenossen 
erhaben; jeder Verkehr mit ihnen galt als geweiht, jede Sache durften sie dem gewöhnlichen 
bürgerlichen Verkehr entziehen (tabu machen), und alles mußte das Glück und Heil darin finden, 
ihnen dienstbar zu sein; sie hatten also eine ähnliche Stellung wie die, welche Aristoteles als 
Tyrannis charakterisiert, aber eine Stellung, die religiös verklärt war. 
Dieser Umschwung brachte eine ungeheure Anderung in die ganze Entwicklung; Um- 
wandlungen, die sonst im Laufe der Jahrhunderte eingetreten wären, erfolgten in wenigen 
Jahren. Die Fortbildung der ganzen Kultur mußte den Häuptlingen besonders am Herzen 
liegen, denn diese Fortbildung war zu gleicher Zeit eine Steigerung ihres Ansehens und ihrer 
Macht. Namentlich die materielle Kultur suchten sie zu mehren und damit zugleich ihren eigenen 
Reichtum. Die antisozialen Tendenzen, wie Blutrache, Selbsthilfe, mußten ihnen zuwider 
sein, und gewaltig griffen sie in das Getriebe des Volkslebens hinein; sie wollten allein die Be- 
sugnis haben, die Streitigkeiten zu schlichten, sie wollten allein berechtigt sein, für die Verwaltung 
Maß und Ziel zu setzen, allein befugt, das Recht zu pflegen und zu verwirklichen. 
So traten die sonst recht langatmigen Fortschritte der menschlichen Entwicklung in kürzester 
Zeit hervor: wo man früher nur tastete, wurde jetzt bewußt geschaffen: Gesetze folgten auf 
Gesetze, Verordnungen auf Verordnungen; alles mußte sich dem Ubermenschen fügen, und 
wenn er starb, so lag die ganze Kultur darnieder. Erst mit dem Eintreten des neuen Häupt- 
lings traten wieder Kulturzustände ein: denn man wußte nichts anderes, als daß alles von ihm 
herrühre und alles Heil auf ihn zurückgehe; darum der Brauch vieler Völker, den Tod des Häupt- 
lings zu verbergen, bis ein neuer Häuptling erscheint und die Zügel der Herrschaft an sich nimmt. 
Aber das Häuptlingsrecht hat auch nach folgender Richtung hin günstig gewirkt: es war 
im Interesse des Häuptlings, fremde Feinde abzuwehren; er mußte daher veranlaßt sein, alle 
nötigen Kräfte zum Schutze der Grenzen zu konzentrieren. Dies war aber auch im Interesse 
des Ganzen: so schufen die Häuptlinge vielfach ruhige Zustände und erlösten das Volk von der 
Geißel fremder Einfälle, die früher das Volksgebiet verheerten, die sonst das Volk vernichtet 
oder der Vernichtung nahegebracht oder es zur völligen Untertänigkeit und Versklavung ge- 
führt hätten. 
Ein weiterer Vorteil des Häuptlingsrechtes war die Pflege internationaler Beziehungen: 
die Häuptlinge waren Personen, welche sich gewöhnen mußten, über das eigene Gebiet hinaus- 
zuschauen und namentlich das Verhältnis des Staates zu den Nachbarstaaten ins Auge zu fassen. 
Sie regten gute Beziehungen an; ihnen sind darum vorzüglich die Verbindungen mit fremden 
Staaten und die Staatsverträge zu danken. Das zeigt sich z. B. bei den afrikanischen Häupt- 
lingen, und es wirkt fort bis in die mittelalterlichen Verhältnisse; in den italienischen Städten 
war es hauptsächlich die emporgekommene Signorie, welche die internationalen Verhältnisse 
pflegte. 
Noch ein Punkt kommt in Betracht: Die Häuptlinge sind es vielfach, welche eine ge- 
wisse Freiheit der Kulte gebracht haben; die Bekenntnisfreiheit mußte ihnen im Kampfe gegen 
das Priestertum einen mächtigen Beistand schaffen.
	        
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