48 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte.
Die kulturfördernde Kraft des Häuptlingstums kann nicht hoch genug angeschlagen
werden; mit Recht hat man darum im Altertum und Mittelalter den wohltätigen, auf das
Interesse des Volks bedachten Gewaltigen sehr von dem nur seinen eigenen Trieben fröhnen-
den volksunterdrückenden Tyrannen unterschieden 1.
War der Häuptling in der Lage, auch das Priesteramt an sich zu ziehen, wie bei den Inkas,
dann hatte seine Macht keine Grenzen. Aber nicht immer war er in dieser Beziehung auf Rosen
gebettet, denn das Priestertum war vielfach so sehr im Volk eingebürgert und mit der Anschauung
und Bildung der Menschen verwachsen, daß der Häuptling nichts anderes vermochte, als sich
mehr oder weniger mit ihnen zu verständigen. Allerdings hörten kräftige Häuptlinge nicht auf,
an der Macht der Priester zu rütteln und eine Betätigung derselben nach der anderen an sich
zu ziehen: sie verweltlichten den Prozeß, sie verweltlichten die Verwaltung und Kriegführung,
sie gewährten eine gewisse Freiheit der Bekenntnisse, spielten das eine Priestertum gegen das
andere aus und trugen dadurch wesentlich zur Modernisierung des Staates bei. Anderseits
war das Priestertum vielfach ein Schutz der Schwachen gegen das UÜbermaß des Einen und
namentlich gegen den Mißbrauch einer so furchtbaren Einzelgewalt. So gab es nicht selten
Reibungen und Kraftproben, die noch in dem späteren kaiser-päpstlichen Streite hervorbrachen,
die oft zu furchtbaren Zusammenstößen führten und auf beiden Seiten die geistigen Kräfte stählten.
Das Priestertum hat aber noch eine andere wichtige Funktion vollzogen: mit Hilfe des
Priestertums entwickelte sich der Umschwung vom Häuptlingtum zum Königtum. Der
König ist nicht Häuptling, auch der absolute König nicht; denn der König erklärt sich nun und
nimmer als die einzige Quelle des Rechts; er weiß, daß er ein Organ des Staates ist, mag er
sich auch für ein Organ halten, das frei verfahren darf, ohne jemandem Rechenschaft abzulegen.
Damit entwickelt sich ein Weiteres: Ist der König ein Organ des Staates, so hat er nicht nur
seine Rechte, sondern auch seine Pflichten; er ist gehalten, im Interesse des Staates zu handeln;
und wenn auch dieser Pflichtgedanke erst allmählich zur vollen Geltung gelangt, so besteht doch
schon von Anfang an das unbewußte Gefühl, daß der Herrscher nicht nur für sich, sondern auch
zugleich für andere zu wirken habe?2. Auch hier hat das Priestertum den Umschwung vollzogen;
die Priester verlangten, daß der König Gott geweiht werde, und sie erklärten die Pflichten gegen
Gott als heiligen Inhalt der königlichen Gewalt; der König mußte schwören, zu Gott zu stehen
und Gottes Gebote zu erfüllen. Damit war von selber der Gedanke zum Ausdruck gebracht,
daß sein Belieben Grenzen habe, und daß diese Grenzen natürlich auch durch die Bedürfnisse
des Ganzen und durch das Wohl des Volkes gesteckt seien — soweit das Wohl des Volkes den
Priestern am Herzen lag und ihr Stützpunkt war.
So entstand das Königtum. Nicht überall aber hat das Häuptlingtum die Oberhand
gewonnen: bei vielen Völkern hat die republikanische Totemverfassung fortgedauert; bei anderen
wurde der Häuptling gebeugt unter die Macht der Geschlechter, d. h. der einflußreichen Familien;
bei anderen behielt die Volksversammlung ihre Bedeutung, und sie mußte immer berufen
werden, wenn es sich um wichtige Beschlüsse handelte, die über den gewöhnlichen Kreis der
Staatsverwaltung hinausgingen.
Es gibt daher zwei, es gibt aber auch nur zwei grundsätzlich verschiedene Organisationen
der Staaten. Entweder die Organisation mit dem Recht des Einzelnen oder die Organisation
mit den Rechten des Volkes, welches zwar auch einen Vorsitzenden, einen Präsidenten ernennen
kann und ernennen wird, aber doch nur mit einer von ihm abgeleiteten, nicht mit einer unmittel-
baren, von außen her gewordenen selbständigen Macht: das eine ist die Monarchie (richtiger
Autarchie genannt), das andere die Republik 7.
Die weitere Entwicklung des Staatslebens ist wesentlich moderner Natur; allein Ansätze
dazu finden sich bereits in den Rechten der Natur- und Halbkulturvölker. Schon bei Totem-
1 So die Erörterungen von Thomas von Aquin, von Bartolus u. a. über den
Tyrannenmord. «
«Bgl.Aall,MachtundPflichtS.277f.
* Dies ist in der Einführung S. 125 näher durchgeführt. Meist ist noch die unzutreffende
sokratisch-aristotelische Dreiteilung in Monarchie, Aristokratie und Republik (Politie) üblich (Aristo-
teles, Politik 1II 5 § 1). Richtig schon der große Machia velli, principe c. 1: Tutti gli stati.
sono o republiche, o principati. Darüber auch Menzel in Grünhuts Zeitschrift XXIX S. 562.