Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

52 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 
des Staatsvertrages ist entbehrlich, da wir hier Rechtsphilosophie und nicht Geschichte der Rechts- 
philosophie zu geben haben 1. 
Und auch die Lehre von den Schranken der Staatsgewalt und den sogenannten Menschen- 
rechten gehört nicht hierher; denn es handelt sich hier nicht um etwas Absolutes, sondern um 
eine Gestaltung nach geschichtlich gegebenen Grundlagen und Grundbedingungen. Am 
verkehrtesten ist die Theorie, welche den Staat zum Rechtsstaate macht, d. h. ihm nur die Auf- 
gabe der Rechtspflege und keine andere zugesteht 2. Sicher ist allerdings, daß kein moderner 
Staat gedeihen kann, der nicht gewisse Rechte der Persönlichkeit anerkennt, sogenannte 
Menschenrechte, deren Entwicklung vor allem den Begründern der Vereinigten Staaten zu 
verdanken ist 3. 
Daher liegt dem modernen Staat allerdings das Erfordernis zugrunde, daß die Ver- 
waltung nach gewissen Grundsätzen verfahre, und daß sie die gesetzlichen Rechte der Einzelnen 
anerkenne, und hieraus ergibt sich die Lehre von der Verfassungsmäßigkeit der Staats- 
regierung, von der sich allerdings bereits in frühen Zeiten Ansätze finden. 
IV. Einwirkung des Ganzen auf die Geschicke des Einzelnen. 
1. Strafrecht. 
8§ 41. Schuld und Willen sfreiheit. 
Bei der Entwicklung des menschlichen Einzelwesens bricht auch dasjenige hervor, was 
man freien Willen nennt, und mit dem freien Willen die Schuld. Lag die Schuld zur Zeit des 
Gesamtlebens mehr in der Gesamtheit als im Einzelnen, so tritt jetzt der Einzelne als voller 
Träger der Schuld hervor und hat für sie einzustehen. Die Schuld aber beruht darauf, daß 
der Mensch nicht maschinenmäßig durch das Getriebe von Beweggründen geleitet wird, sondern 
daß ihm eine gewisse Freiheit zusteht, eine sogenannte Willkür, innerhalb eines bestimmten, 
durch Beweggründe und Anlagen gegebenen Gebietes zu wählen. Seine Naturanlage ist nicht 
etwa so gestaltet, daß sie unmittelbare Willenserregungen auf Grund der Beweggründe er- 
zeugte; wäre dem so, so wäre es um die Willensfreiheit geschehen; die Naturanlage gibt nur 
eine bestimmte Geneigtheit, einen bestimmten Trieb, kraft der Beweggründe zu wirken; da- 
neben steht der freie Wille, der in der Lage ist, von diesem Triebe abzuweichen und sich nach 
einer anderen Richtung zu schlagen. Allerdings, das ist sicher, daß das festbestimmte menschliche 
Einzelwesen dem freien Willen nicht eine jede Ungebundenheit und Zügellosigkeit gewährt, 
denn Freiheit ist nicht gleich Zügellosigkeit, und es gibt nichts Unrichtigeres, als ganz von der 
Persönlichkeit und ihrem Charakter abzusehen und zu vermeinen, daß ein jeder in jedem Augen- 
blick ein Geheimnis wäre, aus dem die allerunwahrscheinlichsten und seltsamsten Dinge hervor- 
gehen könnten. Vielmehr gibt der Charakter dem menschlichen Willen bestimmte Geneigt- 
heiten, die ihn von einer Reihe von Taten absolut zurückhalten, so daß diese von einem be- 
stimmten Menschen nie und nimmer zu erwarten sind. Daneben aber steht dem normalen 
Menschen immer noch eine große Reihe von Möglichkeiten offen, und unter diesen Möglich- 
keiten zu wählen ist Sache des freien Willens “. 
Der freie Wille, der sich gegen die sozialen Gebote wendet, kommt in Schuld. Die 
sozialen Gebote entstehen, sobald man beginnt, den Einzelnen als Persönlichkeit der Gesamt- 
heit entgegenzusetzen; wenn er auf der einen Seite zu handeln und zu entschließen befugt wird, 
so wird ihm auf der anderen Seite geboten, in seinen Handlungen gewisse Güter der Mensch- 
heit zu wahren. Tut er dies nicht, so ist dies ein Sich-aufbäumen gegen die Gesellschaft, es ist 
ein Widerrecht, es ist die Schuld. 
Die Schuld verlangt — nicht immer, aber in bedeutsamen Fällen — ihre Sühne; die 
Sühne ist die Wiederherstellung des durch die Schuld herbeigeführten Unheils, des Unheils, 
1 über Rousseau vgl. Arch. f EJ* VI S. 41. 
„ Liergeg gegen Lehrb. der Rechtsphil. S 
hrb. der Rechtsphil. S. 158. 
Ülber Determinismus und Indeterminismus vagl. Moderne Rechtsprobleme S. 19 f. und 
Leitfaden des Strafrechts S. 8. 
 
	        
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