J. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 53
das darin besteht, daß die soziale Ordnung gebeugt und dadurch die Gesamtheit in Gefahr gesetzt
wird; denn wer den Einzelnen zum selbständigen Handeln zuläßt, muß darauf bestehen, daß die
soziale Ordnung gewahrt wird: unter der Zügellosigkeit des Einzelnen soll nicht das Ganze
zugrunde gehen 1.
Die Sühne besteht in einem Schmerz, in einem seelischen Leiden, denn das seelische Leiden
läutert den Einzelnen und stumpft auch für die Gesamtheit den Stachel der Schuld ab, weil
sich die gerechte Entrüstung in Mitleid umwandelt und dadurch der Schuldige der Gesellschaft
wiedergewonnen wird. Auch die sittliche Empfindung wird in der Gesamtheit gestärkt, wenn
sie fühlt, daß derienige durch Leiden gebeugt wird, der der Gesamtheit gefährlich zu werden
drohte.
Das ist das Wesen der Strafe; dieses erschöpft sich daher nicht in Außerlichkeiten; es er-
schöpft sich nicht darin, daß die Strafe andere abschreckt: denn ist dies auch der Fall, so wäre
es immerhin kein gerechter Zustand, daß der eine (als soufkfre-douleur) büßen müßte, damit
die anderen sich bessern; nur wenn die Strafe sich sühnend gegen den Täter selbst kehrt, ist sie
gerecht.
Ebensowenig kann man sagen, daß die Strafe rein die Besserung des Täters zum Zwecke
hat; dann dürfte man den Unverbesserlichen nicht bestrafen, und beim Verbesserlichen würde
Strafe und Zwangserziehung zusammenfallen, während doch beides im höchsten Grade zu
trennen ist. Der Landstreicher, der niemanden verletzt, bedarf oft einer viel längeren Zucht
als der Dieb oder Betrüger oder überhaupt der Gelegenheitsverbrecher.
Dies gilt namentlich auch für das, was man heutzutage Zweckstrafe nennt. Zweck-
strafe bedeutet nur, was man früher als Strafe kraft relativer Strafrechtstheorie bezeichnete,
also Strafe mit Abschreckungs-, Besserungszweck, Strafe mit Sicherungszweck, sofern die mensch-
liche Gesellschaft gegen unverbesserliche Einzelwesen geschützt werden soll. Ist für letzteres
ein Bedürfnis vorhanden, so darf man eine solche Absperrung nicht als Strafe behandeln;
soweit der Verbrecher kraft der Gerechtigkeit Strafe verdient, ist ihm ein Leiden zuzufügen;
soweit er aber noch außerdem, der Gefährlichkeit wegen, von der Gesellschaft abgeschlossen
werden muß, ist ihm nur soweit Schmerz zu bereiten, als dies mit der Abschließung untrennbar
verbunden ist. An der scharfen Abscheidung von Zwangserziehung, Sicherungsabschließung
einerseits und Strafe anderseits hängt die Zukunft der Strafrechtswissenschaft 7.
§ 42. Blutrache.
In den Zeiten, wo die Entgegensetzung der einzelnen Persönlichkeit gegenüber der Gesamt-
heit noch wenig entwickelt war, galt statt des Strafrechts das Racherecht.
Die Rache beruht, wie die Strafe, auf dem Gedanken, daß auf die Schuld eine Vergeltung
folgen müsse; allein sie entbehrt des sozialen Elementes: nicht deswegen will sie vergelten, weil
der Einzelne sich gegen die Gesamtheit aufbäumte und die Gesamtheit dies zu fühnen hat,
sondern deswegen, weil der Einzelne verletzt wurde, und diese Verletzung will wieder eine Ver-
letzung; das verlangt ein dem Menschen, ebenso wie anderen animalischen Wesen, ursprüng-
lich innewohnendes Gefühl. Darum ist auch die Rache unbändig und blind; sie kennt, wenigstens
in ihren ersten Entwicklungsstufen, kein Maß und kein Verhältnis. Sie trägt nicht zur Gesundung
der Gesamtheit bei, sondern bietet Anlaß zu ständig neuen Erregungen und ist darum ein anti-
soziales und unsittliches Institut. Allerdings ist die Blutrache nicht immer in diesen ersten Stufen
stecken geblieben; sie hat Entwicklungsformen angenommen, welche sie der Strafe annäherten.
Schon daß man sie nicht nur als Recht, sondern als Pflicht betrachtete, und daß sie nicht von
dem Verletzten, sondern von der ganzen Familie geübt wurde, gab ihr einen allgemeineren
Charakter. Außerdem entwickelten sich gewisse Verhaltungsgrundsätze; insbesondere sollte
die Rache mit dem Unrecht ein bestimmtes Gleichmaß zeigen. So kam es, daß die Blutrache
den Menschen jahrhundertelang genügte und erst allmählich anderen Einrichtungen Raum gab.
Jedenfalls aber ist die Blutrache eine der verbreitetsten Erscheinungen des Erdballs. Es gibt
1 VgI. meine Schrift: Wesen der Strafe (1888).
ch Sl. herüber Moderne Probleme S. 44 f., Gedanken über die Ziele des heutigen Straf-
rechts S. 24 f.