Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

54 I. Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte. 
kein Naturvoll, das sie nicht kannte, kein Kulturvolk, das nicht aus dem Stande der Blutrache 
hervorgegangen wäre 1. 
Eine Schranke aber führte die Geschlechterverfassung von jeher ein: die Rache sollte 
nicht innerhalb der Familie, nicht innerhalb des Geschlechts wüten, weil dies die Familie einer 
Selbstvernichtung entgegengetrieben hätte. An Stelle dessen trat die Familiendisziplin, welche 
die Vorbotin des modernen Strafrechts war. 
8§ 43. Anfänge des Vergeltungsrechts. 
Als sich das soziale Strafrecht entwickelte, trat der Gedanke der Sühne und damit das 
richtige Verhältnis zwischen Schuld und Strafe oft nur in sehr getrübter Form hervor. Zwar, 
eine gewisse Verhältnismäßigkeit hatte sich schon in den Blutrachezeiten festgestellt, und die 
Idee: wie man verletzt hat, müsse man wieder verletzt werden, ist äußerst verbreitet; sie ist eine 
volkstümliche Außerung des Grundgedankens, daß die Strafe eine gerechte Sühne und Wieder- 
vergeltung sein müsse. Daher der Satz: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dieser Spruch scheint 
auf den ersten Augenblick manche Berechtigung zu haben; er steht aber mit unserer jetzigen An- 
schauung in Widerspruch und führt zu äußerlichen Ergebnissen. Denn einmal wendet er sich 
gar nicht gegen die Schuld, sondern gegen den Erfolg der Tat:der nämliche Erfolg soll dem Schuldigen 
zuteil werden; das ist aber nach unserer jetzigen Rechtsbetrachtung unzutreffend: der Täter hat 
vielleicht in starker Aufregung gehandelt; ist es da angemessen, daß man ihm absichtlich und 
nach ruhiger Erwägung dasselbe Übel zufügt, ihm etwa wiederum ein Auge ausstößt, wenn 
er den Verlust eines Auges herbeigeführt hat? Sodann muß beachtet werden, daß ein und 
derselbe Erfolg bei dem einen Wesen schmerzlicher ist als bei dem anderen; schon in früheren 
Zeiten setzte man sich den Fall, daß, wenn ein Einarmiger einem anderen die Hand abgehauen, 
der Verlust der einen Hand für ihn doch viel schlimmer wäre als das Ubel dessen, dem nach Verlust 
der einen Hand noch eine andere übrig bleibt?. Der Talionsgedanke ist daher der fortgeschrittenen 
Rechtsabwägung nicht mehr gemäß; als das Richtige erscheint folgendes: dem Frevler ist ein 
Leiden zuzufügen, das mit der Schuld in einem solchen Verhältnis steht, daß wir es als eine 
gerechte Wiedervergeltung und Tilgung der Schuld empfinden. Das ist natürlich in den ver- 
schiedenen Zeiten verschieden; verschieden ist es namentlich nach der Empfindungskraft und 
der Leidensfähigkeit des Menschengeschlechts, die durchaus nicht in allen Zeiträumen die näm- 
liche ist 5. 
Seine Weihe erlangt das Vergeltungsprinzip durch die Jdee der Gottesstrafe. 
Die Tat wird vergolten, weil sie die Gottheit beleidigt hat und die beleidigte Gottheit zu ver- 
söhnen ist. Es braucht keines Hinweises, daß diese Idee einer zürnenden Gott- 
heit ein bedeutendes Bildungselement in sich trug. Die Sühne für die beleidigte Gott- 
heit war zugleich eine Sühne für das beleidigte sittliche Bewußtsein, sie war zugleich eine Sühne 
für das gotteswidrige und damit sozialwidrige Verhalten. Allerdings nahm dieser Gedanke 
oft eine höchst persönliche Form an; man glaubte, daß die Gottheit zürne und ungehalten sei; 
ja, man glaubte, daß sie diesen Unwillen an der ganzen Menschheit oder doch wenigstens an 
Stadt und Staat erweise. So kommt es, daß selbst ein so gottesfürchtiger Mann wie Justi- 
nian der Ansicht ist, daß Gotteslästerungen Seuchen und Erdbeben erzeuge, und Ende des 
15. Jahrhunderts glaubte man das Auftreten der Blattern auf schwere göttliche Strafe wegen 
ähnlicher Sünden zurückführen zu müssen. Ebenso findet sich der Gedanke vielfach in den 
italienischen Stadtrechten des 16. Jahrhunderts, und daher erklärt sich die furchtbare Strafe des 
Feuertodes gegen den Päderasten und die Satzung, daß man auch das mißbrauchte Tier tötete: 
Nachweise in meinem „Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz“ S. 131 f., meiner 
Schrift über die Blutrache (1885), und zahlreiche weitere Nachweise in späteren rechtsvergleichenden 
Abhandlungen. Vgl. ferner Arias, isttituzioni giuridiche nella divina Commedia (1901) 
p. 31 f., Götz in Z. f. vergl. Rechtsw. XXIV S. 246 f. (über russisches Recht). 
* Ein Fall, der im griechischen Gedankenkreis eine große Rolle spielte, vgl. Kohler und 
Ziebarth, Recht von Gortyn S. 90. 
* Gedanken über die Ziele des Strafrechts S. 14 f. Abarten der Talionsidee sind die sinn- 
bildliche Strafe und die Bestrafung des frevelnden Körperteils; darüber vgl. Leitfaden des 
Strafrechts S. 68. 
 
	        
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